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7. Otto Neurath : Moral
246 schaften , die die Natur , und in solchen , die kulturelle Phänomene als Forschungsgegen-
stand haben , angewendet werden. Rickerts Analyse kann man sehr wohl zustimmen , ohne
seine spezielle Werttheorie zu unterstützen , denn zur Unterscheidung der methodischen
Ausrichtung ist Rickerts Werttheorie nicht nötig. Rickert sah darin lediglich den einzi-
gen Weg , den Kulturwissenschaften , auch wenn sie diese Methode anwenden , die Ob-
jektivität zu sichern.
Die fundamentalen Wertbeziehungen , die Rickert in den Kulturwissenschaften sah ,
wenn sie eine historische Methode anwandten , machen das Projekt einer empirischen
Sozialwissenschaft mit lediglich generalisierenden Methoden ( Rickert sprach auch bei
Anwendung der historischen Methode von empirischen Wissenschaften ) nicht unmög-
lich. Hier kann ich Uebel ( 2010 , 121 ff. ) keinesfalls zustimmen. Rickerts Methode lässt es
durchaus zu , soziale Probleme wissenschaftlich zu behandeln , auch naturwissenschaftlich
im Sinne von generalisierend. Auch eine marxistische Behandlung ist möglich , nur müss-
te diese ihr zum Teil historisches Verfahren anerkennen , insofern die Wertbezüge , die sie
enthält , offengelegt werden. Es wäre durchaus von aktuellem Interesse , wie eine Kulturwis-
senschaft in einer pluralistischen Gesellschaft aussehen könnte , ob sie dann ihre Funktion ,
Bedeutungsbezüge aufzuzeigen , häufig nur für einen Teil der Gesellschaft erfüllen könn-
te. Rickert lässt im Übrigen zu , dass geteilte Werte keine absoluten Werte sein müssen.
Neurath war jedoch nicht zuletzt aus politischen Gründen gegen Rickert. Er spricht in
Zusammenhang mit Rickert in Briefen mehrmals von „BLUBO-Meta physik“, d. i. „Blut
und Boden“-Metaphysik ( siehe Uebel 2010 , 118 f. ). So entrüstet er sich unter Verwendung
dieses Ausdrucks über Schlicks „Philosophie und Naturwissenschaft“, einen Vortrag aus
dem Jahre 1929 , der 1934 in Erkenntnis veröffentlicht wurde :
Hast Du genauer gelesen , was Schlick über Windelband , Rickert und die Geschichtsschrei-
bung sagt , die nichts lernen kann ? Mit vollen Segeln kehrt er in den Mutterboden der BLU-
BO-Metaphysik zurück , natürlich nur partiell. Aber immerhin. Es ist erschütternd. ( Neu-
rath an Carnap , 2. Februar 1935 , Rudolf Carnap Collection , ASP RC 029–09–87 ; zit. n. Uebel
2010 , 119 )
Schlick erkannte in diesem Vortrag einen eigenständigen Charakter der Geisteswissen-
schaften an , wie er sie im Unterschied zu Rickert nannte , und sah in ihrer kulturellen Per-
spektive einen Vorzug :
Denn es ist ja gerade ihre Schönheit und Macht und ihr unwiderstehlicher Reiz , daß sie sich
nur mit dem Menschlichen im Dienste des Menschlichen beschäftigen. ( Schlick 1934/35 , 393 )
Uebel vermutet , Neurath regte besonders die Bereitschaft Schlicks auf , „das Ziel sozial-
wissenschaftlicher Erklärungen auf dem Altar angeblich allgemeiner menschlicher Werte
zu opfern“ ( Uebel 2010 , 120 ). Warum sollte dabei jedoch etwas geopfert werden ? Rickert
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441