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7.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen
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legende strukturelle Veränderungen herbeigeführt werden. Er nennt diese Konzeption in
seiner marxistischen Periode einen Sozialepikureismus. Zudem basiert die Moral auf ei-
nem gemeinsamen Entschluss , den auch eine Moralwissenschaft nicht hintergehen kann.
Mit Neurath wäre zu sagen : Am Anfang der Moral waren der gemeinsame Entschluss
und die gemeinsame Tat.328
Das Ignorieren einer direkten Thematisierung von Moral mag auch Neuraths Über-
zeugung geschuldet sein , es brauche für einen moralischen Fortschritt wissenschaftliche
Bildung und keine moralische. Moralischer Fortschritt komme ohne direkte Moralisie-
rung aus. Ein Moralisierer war Neurath mit Sicherheit nicht. Schon gar nicht wollte er
die Wissenschaft vorschieben , wo es in letzter Konsequenz um gemeinsame Entschlüsse
geht. Die Wissenschaft , auch eine Moralwissenschaft , ist keine der Lebenspraxis Moral
gegenüber höhere Instanz , ebenso wenig die Philosophie. Philosophinnen und Philoso-
phen , die dies meinen , verkennen ihre Rolle. Zu ihnen zählt Neurath vor allem die idea-
listischen Schulphilosophen seiner Zeit :
Die idealistischen Schulphilosophen unserer Tage von Spann bis Heidegger wollen herr-
schen , wie einst die Theologie geherrscht hat , nur daß die Scholastiker sich auf den Unterbau
der feudalen Produktionsordnung stützen konnten , während unsere Schulphilosophen nicht
merken , daß ihnen ihr Unterbau unter den Füßen wegrutscht. ( Neurath 1932 [ 1981b , 572 f. ])
Bei aller Betonung von Toleranz und Pluralität erwecken Neuraths Werke zuweilen ei-
nen dogmatischen Eindruck. Dieser ergibt sich daraus , dass Neurath seinen sozialen Eu-
dämonismus nicht infrage stellt , sondern für seine Arbeiten voraussetzt. Er ist bei Neu-
rath überwiegend Ausgangspunkt und nicht Thema. Anstatt Diskussion finden sich dann
Vorschläge zur Umsetzung , Agitation und Suggestion.
Neurath war zweifelsfrei ein kämpferischer Gestalter , der sich für seine Gesellschaft
verantwortlich fühlte. Er konnte Europa nicht einfach verlassen , weil alle seine Tätigkei-
ten Teil eines gesellschaftlichen Engagements waren. An Carnap schrieb er :
We have to rebuild Europe , do not forget it. ( Neurath an Carnap , September 1941 ; Nachlass
Neurath , Inv.-Nr. 222 , zit. n. Nemeth 1994 , 121 )
Für sein Tun fühlte sich Neurath nicht als Wissenschaftler moralisch verantwortlich , je-
doch als Bürger und Mensch auch für sein wissenschaftliches Tun. Die politischen Werke
unterscheiden sich von seinen wissenschaftlichen insofern , als in den politischen die ge-
wählte moralische Perspektive Teil dieser Schriften ist und Neurath deshalb mit der Au-
torität eines Bürgers unter Gleichen wertend Stellung nimmt. Dieser Entschluss ist den
328 Zur Frage , wie Gemeinsamkeit ohne Hypostasierung zu einem singulären Kollektiv gedacht werden
kann , ist leider auch bei Neurath wenig zu finden.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441