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8.2 Relativity – A Richer Truth
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Wenn sich ein Student geistig nur auf eine naturwissenschaftliche Disziplin beschränkt und
seine Sprache sich streng an die Terminologie dieses Gebietes hält , kann er leicht gefährli-
chen Schlagworten anderer Gebiete zum Opfer fallen. Einem Spezialisten der Physik oder
Chemie kann man sehr leicht einreden , ein Psychologiefachmann hätte bewiesen , daß die
Menschheit zu ihrem Glück eine bestimmte Regierungsform oder eine bestimmte religiö-
se Überzeugung nötig habe. Man kann ihm einreden , Wirtschaftsexperten hätten bewiesen ,
daß es hungernde Menschen geben müsse , damit sich die Räder der Wirtschaft drehen. Man
kann Fachwissenschaftlern sogar einreden , daß die Spezialisten der Ethik bewiesen hätten ,
jeder müsse einer bestimmten Autorität gehorchen , ganz gleich , was für Verbrechen diese
Autorität befehlen sollte.
Wenn aber ein Student die Bedeutung der Feststellung , eine Behauptung sei „bewiesen“, auf
seinem eigenen Gebiete versteht , wird er leicht auch allgemein zu unterscheiden lernen , was
bewiesen werden kann und was nicht. Er wird über die angemaßte Befehlsgewalt selbstein-
gesetzter Führer urteilen und ihren Behauptungen , diese Befehle seien durch gutfundierte
Lehren wie zum Beispiel die Ethik , die Nationalökonomie oder die Theologie bewiesen , mit
Kritik begegnen. ( Frank 1950 [ 1952 , 81 ])
Eine solche kritische , die Grundlagen der eigenen Disziplin und ihre gesellschaftliche
Einbettung hinterfragende wissenschaftsphilosophische Lehre und Forschung wollte
Frank als Gründer und Leiter des Institute for the Unity of Science fördern. Er wollte die
Studierenden zu guten Bürgerinnen und Bürgern erziehen , die nicht der Versuchung er-
lägen , durch die unwissenschaftliche Berufung auf „absolute“ Werte manipuliert zu wer-
den. ( Reisch 2005 , 226 ) Nicht die Resultate einer Wissenschaft seien für eine ethische
Erziehung und besonders für die Erziehung zur Demokratie wichtig , sondern der wis-
senschaftliche Geist.336 Das ist für Frank jene Haltung , die sich in einem Menschen ent-
der Lehre von der Willensfreiheit : „Ungeübt in der logischen Analyse seines eigenen Gebietes und
in noch stärkerem Maße der angrenzenden Gebiete , ist es für ihn erregend , Gelegenheit zum Ge-
brauch dieser Worte zu finden ; die Mehrdeutigkeit seiner Ausführungen wird ihn nicht zu sehr er-
schüttern. Munter wird er in das Gebiet der Populärphilosophie marschieren , auf dem ihn die Ein-
geborenen – stolz auf die Unterstützung der Wissenschaft – begeistert empfangen werden.“ ( Frank
1950 [ 1952 , 64 ])
336 Frank beschäftigte sich schon 1917 in seinem Aufsatz „Die Bedeutung der physikalischen Erkennt-
nistheorie Machs für das Geistesleben der Gegenwart“, der in der Zeitschrift Die Naturwissenschaften
erschien , mit dem Zusammenhang zwischen einer aufgeklärten kulturellen Haltung und den exakten
Naturwissenschaften , allen voran der „Königsdisziplin“ Physik. Machs Lehre fasste Frank als „die un-
serem Zeitalter angemessene Aufklärungsphilosophie“ auf. ( Frank 1917 [ 2006 , 106 ]) Die Kritik an der
Aufklärung des 18. Jahrhunderts sei bei Mach eine Kritik im Geiste der Aufklärung gewesen. Zur Kon-
tinuität zwischen Franks Denken und dem der Aufklärung siehe Uebel , „Education , En
light
enment
and Positivism : The Vienna Circle’s Scientific World-Conception Revisited“ ( Uebel 2004 ). Frank sah
in Nietzsche einen Verbündeten Machs im aufklärerischen Denken : „Nun ist Nietzsche der andere
große Aufklärungsphilosoph des ausgehenden 19. Jahrhunderts.“ ( Frank 1917 [ 2006 , 111 ])
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441