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8.2 Relativity – A Richer Truth
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Je mehr wir erfahren , desto besser verstehen wir , daß das menschliche Verhalten kompli-
zierter ist , als wir angenommen hatten. Daher ist die Sprache , in der wir die Bewertungen
des menschlichen Verhaltens niedergelegt haben , auch immer komplizierter geworden. Das
heißt , sie ist in dem gleichen Maße „relativiert“ worden wie die Sprache der Wissenschaft.
( Frank 1950 [ 1952 , 40 ])
Skepsis entwickle sich nur dort , wo ein Kind dazu erzogen werde , das Wort „böse“ ohne
nähere Erläuterungen zu verwenden. Wird ein Kind mit verschiedenen Autoritätssyste-
men konfrontiert , müsse „Hans ist böse“ durch sehr viele Zusätze erweitert werden :
Sie [ diese Sprache ; A. S. ] muß , um eindeutig zu sein , beispielsweise die Methoden enthalten ,
mit Hilfe derer der Wille Gottes zuverlässig interpretiert werden kann. Oder sie muß Mit-
tel und Wege angeben , mit denen man die Stimme des Gewissens prüfen kann. Die Spra-
che ist nun stark „relativiert“. Eine simple Behauptung wie „Hans ist böse“ hat keinen klaren
und eindeutigen Sinn mehr. ( Frank 1950 [ 1952 , 20 ])
Die Meinung , einer reicheren Erfahrung mit einer einfachen Sprache begegnen zu kön-
nen , sei reine Illusion :
Mit einer einfachen Sprache läßt sich keine „absolute“ oder „undifferenzierte“ Wahrheit
schaffen. ( Frank 1950 [ 1952 , 20 ])
In einer komplexen moralischen Welt müssen die Bezugspunkte angegeben werden , um
die moralische Sprache klar und eindeutig zu halten. Wo man meint , dies in der Formu-
lierung der Grundsätze vermeiden zu können , seien die Erläuterungen eben in der Ausle-
gung vorzunehmen. Und so schleiche sich der „Relativismus“, dessen man sich entledigen
wollte , eben dort wieder ein. ( Frank 1950 [ 1952 , 21 ]) Frank nimmt die Ableitung bestimm-
ter Entscheidungen von allgemeinen Werten als Beispiel. Bei der Diskussion von Werten
sei sorgfältig zwischen zwei Bedeutungen von „Wert“ zu unterscheiden. Zum einen gehe es
um konkrete Institutionen und Lebensweisen. Ihre Akzeptanz gründe in „der Atmosphäre
allgemeinen Wohlergehens , das alle diese Menschen gedanklich mit diesen ‚Werten‘ ver-
binden.“ ( Frank 1950 [ 1952 , 39 ]) Menschen verbinden damit ( gedanklich ) direkte Erfah-
rungen von Wohlergehen. Diese Erfahrungen seien wertvoll , weil sie für das Wohlerge-
hen einen positiven Unterschied machten. Anders verhält es sich bei Werten im zweiten
Sinne. Hierbei seien allgemeine Grundsätze gemeint wie „Freiheit“ oder „Demokratie“.
Obwohl es sich bei beiden Arten von Werten um Vorlieben handelt , bestehe im zweiten
Fall das praktische Problem , wie von diesen allgemeinen „Werten“ bestimmte Entschei-
dungen abgeleitet werden sollten. ( Frank 1950 [ 1952 , 39 f. ]
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441