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8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral
260 im Unterschied zu einer „göttlichen“ oder „übernatürlichen“. Wenn es die Funktion mo-
ralischer Systeme ist , Handeln anzuleiten , dann muss der Sinn handlungsbezogen sein.
Man müsse sich dabei nicht in Bezug auf allgemeine Grundsätze einig sein , um in
praktischen Zielen übereinzustimmen. Einverständnis in einer Gruppe von Akteurinnen
oder Akteuren dahingehend , welche Lebensbedingungen sie hergestellt haben wollen ,
genüge für eine Zusammenarbeit in allen praktischen Fragen. Und wenn dieses „Einver-
ständnis nicht existiert , so ist diese Gruppe einer praktischen Zusammenarbeit nicht fä-
hig“. ( Frank 1950 [ 1952 , 76 ]) Das Problem der Grundsätze , von denen die Formulierung
dieser Bedingungen abgeleitet werden kann , ist ( praktisch gesehen ) sekundär. Auch hier
herrscht das Primat der Praxis :
Wenn wir ein zusammenhängendes System solcher Prinzipien aufstellen können , werden wir
sicherlich logisch denkenden Menschen eine Freude bereiten und zur leichteren Annahme
dieser Prinzipien beitragen. ( Frank 1950 [ 1952 , 76 ])
Die Wichtigkeit allgemeiner ( absoluter , strenger ) ethischer Prinzipien für die Praxis sol-
le deshalb nicht zu hoch veranschlagt werden. Hier liegt auch Einigkeit mit Menger vor ,
der keine abstrakten Grundsätze diskutieren will. Frank schlägt folgende Vorgehenswei-
se für die moralische Praxis vor :
Es müßte eine Gruppe von Menschen geben , die sich darüber klar ist , was für eine tatsächli-
che Lebensweise sie auf der Erde verwirklicht sehen möchte. Und diese Lebensweise müßte
durch operationale Definitionen beschrieben werden
– das heißt in Begriffen von beobacht-
baren Bedingungen. Dann könnte man versuchen , ein System klar formulierter Grundsät-
ze aufzustellen , von denen sich diese Beschreibung einer Lebensweise ableiten ließe. ( Frank
1950 [ 1952 , 77 ])
Tatsächlich sei dies die Methode aller erfolgreichen moralischen Systeme gewesen. So
stelle die Bibel eine Menge detaillierter Beschreibungen zur Verfügung. Sogar die Zehn
Gebote waren ursprünglich Beschreibungen menschlichen Verhaltens unter den norma-
len Bedingungen menschlichen Lebens. Sie sollten einfach das Verhalten eines Nachbarn
und Mitbürgers verurteilen , der seinen Nachbarn bestahl oder dessen Weib schändete.
Sie waren nicht als Prinzipien eines deduktiven Systems gedacht. Es sei sinnlos , mithil-
fe komplizierter Untersuchungen daraus irgendwelche Folgerungen ableiten zu wollen.
( Frank 1950 [ 1952 , 77 f. ])
Frank fasst die Erörterungen über eine relativierte Ethik folgendermaßen zusammen :
Jedes ethische System besteht aus seinen Grundsätzen und den operationalen Definitionen
seiner Begriffe. Um ein sehr einfaches Beispiel zu nennen : Der Grundsatz kann lauten : „Du
sollst nicht morden“; die operationale Definition beschreibt nun , was für eine Handlung mit
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441