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9.2 Schlicks moralische und ethische Auffassungen vor seiner Wiener-Kreis-Periode
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kes das Problem von Kausalität und Naturgesetzen dar ( z. B. Schlick 1932 /33 [ 2008 , 246 f. ])
und erklärt bereits in der Lebensweisheit :
Alles Geschehen geschieht aus einem Zwange. Das Kreisen der Sterne , das Wachsen der
Pflanze , das Leben der Menschen. Dieser Zwang ist das Naturgesetz. Es ist kein Gebot , das
über der Natur steht , kein Befehl , was in der Welt geschehen soll ; es ist nur der vom Men-
schen gefundene Ausdruck dafür , was in der Welt geschieht. ( Schlick 1908 , 40 )
Die Evolution der Triebe verläuft nach Gesetzen : An dieser Stelle sind zunächst einige Er-
läuterungen zur Zielsetzung der Evolution vonnöten , die uns zu Schlicks Hedonismus
bzw. Eudämonismus führt. Schlick setzt in der Lebensweisheit Glück und Lust gleich.358
Für ihn verläuft die Evolution in Richtung größtmöglicher Lust , wofür er zudem den Aus-
druck „Glückseligkeit“ verwendet.
Eine Definition von „Lust“ bietet Schlick nicht. Lust könne man nur fühlen , jedoch
nicht sprachlich abgrenzen. ( Schlick 1908 , 32 ) Wir erfahren jedoch , dass sich Menschen
dem idealen Zustand der Glückseligkeit umso mehr nähern , je vollkommener alle ihre
Triebe befriedigt seien. ( Schlick 1908 , 34 ) Es geht also um Triebbefriedigung. Bei Trieben
handelt es sich in seinem Sprachgebrauch um Anlagen , „deren Erregung durch äußere
Reize eine Handlung auslöst“. ( Schlick 1908 , 8 ) In einem Beispiel nennt er den physiolo-
gischen Zustand einer trockenen Kehle ( Durst ) als Trieb. ( Schlick 1908 , 8 ) Triebe werden
durch Motive erregt. Im Beispiel des Durstes wäre dies eine ( zumindest vorgeblich durst-
löschende ) Flüssigkeit und :
Das Wirken eines durch Motive erregten Triebes kommt uns zum Bewußtsein als ein Zwang ,
[ … ], und indem wir dem Zwange nachgeben , werden wir seiner ledig , und diese Befreiung
nennen wir Lust. ( Schlick 1908 , 20 )
Mit der Gleichsetzung von Glück und Lust gibt Schlick zudem zu verstehen , dass er
Glück als subjektives und psychisches Empfindungsglück versteht.359 Und wir erfahren ,
dass sich die Lust / das Glück nach Schlick aus zwei Arten zusammensetzt , nämlich Ge-
nuss und Freude. „Genuss“ meint die Lust des Augenblicks , „Freude“ die Lust an zukünf-
358 Er schreibt z. B. : „Wille zur Lust und Wille zum Glück sind zwei Namen für eine und dieselbe Sa-
che“ ( Schlick 1908 , 51 ), wobei fraglich ist , ob Schlick diese Synonymisierung wirklich durchhält. In
den Fragen von 1930 will Schlick den Ausdruck „Glück“ nur mehr für den Zustand maximaler Lust ,
und damit identisch mit dem Wertvollsten verwenden. ( Schlick 1930 , 134 ) Die Verbindung von He-
donismus und Eudämonismus geht auf Epikur zurück und hat sich in der Geschichte der hedonis-
tischen Lehre meist erhalten. ( Reiner 1964 , 37 ) Ebenso bei Neurath.
359 Im Unterschied zum Begriff des Erfüllungsglücks , der den Besitz der wichtigsten glücksrelevanten
Güter meint. ( Horn 2002 , 376 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441