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9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre
274 tiger Lust , Hoffnung auf Genuss. Deshalb sei jede Lust entweder Triebbefriedigung oder
Hoffnung darauf. ( Schlick 1908 , 50 )360
Durch diesen Zusammenhang zwischen Lust , Glückseligkeit und Trieb ergeben sich
nach Schlick bestimmte Gesetzmäßigkeiten in der Evolution der Triebe.
Das erste Gesetz besagt , alle Eigenschaften eines Individuums , die seinem eigenen Da-
sein schädlich werden können , müssten verkümmern und zerstört werden. ( Schlick 1908 ,
68 f. ) Denn Lust setze Leben voraus. Das zweite Grundgesetz der Evolution der Triebe
besagt , „diejenigen Eigenschaften eines Individuums , welche zwar nicht seinem Dasein ,
wohl aber einer Vergrößerung seines Glücks , einer Mehrung seiner Gesamtheit , entge-
genwirken“, müssten ebenfalls untergehen. ( Schlick 1908 , 69 f. )361 Zwar bringt die Befrie-
digung eines jeden Triebes Lust , doch die Befriedigung mancher Triebe beeinträchtige die
Befriedigung anderer oder die Befriedigung des Triebes in der Zukunft und damit die Ge-
samtsumme der Lust. Das Ziel sei nicht größtmögliche Lust zu einem bestimmten Zeit-
punkt , sondern größtmögliche Lust über ein gesamtes Leben hinweg. Diesen Gedanken
hat Schlick im Übrigen beibehalten.
Das Ziel der Evolution liegt darin , alle arbeitenden Tätigkeiten allmählich in spielende zu
verwandeln : Die höchste Höhe der Evolution sei erreicht , wenn die Lebewesen mög-
lichst glücklich sind. Für die Menschen bedeute dies , dass dieser Zustand erreicht sei ,
wenn sie bei ihrem Tun nicht nur zukünftige Befriedigung erhoffen können , sondern ihr
Tun stets auch von Genuss , d. i. die Lust des Augenblicks , begleitet werde. Lust könne
mit einer Tätigkeit nämlich auf zwei verschiedene Weisen verknüpft sein : „Sie ist entwe-
der eine Folge der Tätigkeit , oder der Zustand der Tätigkeit selbst ist an sich ein lustvol-
ler.“ ( Schlick 1908 , 112 ) Eine Tätigkeit , auf welche die Lust nur als Ziel und Lohn folgt ,
nennt Schlick Arbeit ; eine solche dagegen , die stets schon von selbst mit Lust verbunden
ist , Spiel ( Schlick 1908 , 112 ):
Nehmen wir aber einmal für einen Augenblick an , es habe sich der Mensch so vollkommen
an die Natur angepaßt , daß sie ihm alle ihre Schätze von selbst darbietet und folglich alle
Arbeit überflüssig macht , dann wissen wir nun , was die Stelle der Arbeit im Leben einneh-
360 „Aus Genuß und Freude ist alle Lust gemischt. Die Summe von beiden in jedem Augenblick so groß
zu machen wie möglich
– das ist die Aufgabe des Willens zum Glück , das ist die Kunst des Lebens.
Und diese Mischung macht des Menschen Leben so schön – und so schwer. [ … ] Erst beim Men-
schen beginnt die Freude auf zukünftige Lust überhaupt einen beträchtlichen Teil der Gesamtlust
auszumachen , [ … ]. Das Leben des Tiers kann reich an Genuß und Schmerz sein , der Mensch aber
darf außerdem ein freuden- und sorgenvolles Dasein führen.“ ( Schlick 1908 , 53 f. )
361 Auch hier findet sich eine direkte Bezugnahme auf Nietzsche : „Die Triebe , deren zu große Stärke
ihren Träger unglücklich macht , deren Nachlassen oder Verschwinden also ihn zum Erlangen einer
größeren Lustsumme befähigen würde , heißen Leidenschaften. [ … ] Die entgegengesetzten Triebe ,
die den Menschen um so glücklicher machen je stärker sie sind , können wir füglich gesunde oder , mit
Nietzsche , Freudenschaften nennen.“ ( Schlick 1908 , 56 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441