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9.2 Schlicks moralische und ethische Auffassungen vor seiner Wiener-Kreis-Periode
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men und ihren Platz aufs herrlichste ausfüllen wird : nicht faules Genießen , Langeweile und
schlaffes Nichtstun , sondern Spiel , erfrischendes , belebendes Spiel , das die Wangen glühen ,
die Augen strahlen läßt und den Leib mit Wonne erfüllt ! Wer aber sagt , er werde dennoch
stets auch dem beseligendsten Spiele die Arbeit vorziehen , durch die allein man große Wer-
ke schafft und tiefe Spuren auf der Erde zurückläßt , aus dem spricht nur die Eitelkeit der
Schaffenden , das heißt , die Torheit. ( Schlick 1908 , 115 )362
Hier entdeckt Schlick ein neues Prinzip der Evolution :
Wie verhalten sich diese beiden Arten von Tätigkeit in entwicklungsgeschichtlicher Hin-
sicht ? Hier entdecken wir bald das fundamentale Prinzip : Die Evolution strebt dahin , alle
arbeitenden Tätigkeiten allmählich in spielende zu verwandeln. ( Schlick 1908 , 115 )
Wenn alles , was in der Folge Glück bringt , im Vollzug schon lustvoll sei , steigere sich die
Lustsumme , so die Überlegung :
[ … ] ebenso zielt die Entwicklung dahin , alle zu den Zwecken des Lebens nötigen Tätigkei-
ten in sich selbst lustvoll zu machen , so daß sie außer der Hoffnung auf die Erreichung des
Zwecks noch einen unmittelbaren , vom Zweck unabhängigen Genuß bieten. Auf diese Wei-
se wird also mit dem Fortschreiten der Evolution die Lust des Augenblicksgenusses immer
größer , während die Lust der Freude nicht geringer wird ; die Gesamtsumme des Glücks der
Individuen steigt also. ( Schlick 1908 , 116 )
Was Schlick an einer Stelle für die Wissenschaft und Kunst formuliert , meint er für alle
Tätigkeiten , nämlich dass sie sich auf der Höhe ihrer Entfaltung befänden , wo sie nicht
mehr nur anderen Zwecken dienten , sondern Selbstzweck seien. ( Schlick 1908 , 131 )363
Mormann bemerkt hierzu besonders kritisch :
In Schlicks evolutionärer Utopie verwandelt sich das Privileg , das etwa in der antiken Skla-
venhaltergesellschaft die Herren gegenüber den Sklaven innehatten , oder im Kapitalismus
362 Mit seinem Spielbegriff bezieht sich Schlick auf Überlegungen Schillers in „Über die ästhetische Er-
ziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen“ ( Schiller 1795 ).
363 „Der Beruf des Künstlers und Gelehrten ist das Spiel.“ ( Schlick 1908 , 123 ) „Am erstaunlichsten of-
fenbaren sich die erstaunlichen Eigenschaften des menschlichen Gehirns in jenem Spiel des Geis-
tes , welches Wissenschaft heißt.“ ( Schlick 1908 , 143 ) In diesem Sinne äußert Schlick sich u. a. noch
in der 2. Auflage der Allgemeinen Erkenntnislehre von 1925 über den Wert der Erkenntnis , der ein-
fach darin bestehe , dass sie erfreue. ( Schlick 1925 [ 1979 , 123 ]) Es hat allgemein den Anschein , Schlick
habe ein Leben lang darunter gelitten , nicht nur spielen zu können. „Kurz , Arbeit schien dem jun-
gen Gelehrten aus gutem Hause nicht der richtige Weg zur vollkommenen Glückseligkeit.“ ( Mor-
mann 2010a , 269 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441