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9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre
276 des 19. Jahrhunderts die Bildungsbürger gegenüber dem Proletariat , in ein „fundamentales
Prinzip der Evolution“, so dass in einem späteren Stadium der Evolution alle Angehörigen
der Spezies dieses Privileg würden genießen können. ( Mormann 2010a , 270 )
Menschen können das Evolutionsziel antizipieren und die Evolution mitgestalten : Im Kultur-
prozess arbeiteten Menschen bewusst am natürlichen Entwicklungsprozess , indem sie die
Ziele der Evolution in ihren Absichten vorwegnehmen und die zur Höherentwicklung nö-
tigen Mittel mithilfe des Verstandes schafften. ( Schlick 1908 , 74 ) Die Kultur umfasst nach
Schlick alle künstlichen Mittel , die die Menschheit geschaffen hat , um ihre Glückseligkeit
zu mehren , sowohl hinsichtlich der Bedürfnisse des Leibes als auch der Seele. Die Zivili-
sation bildet im Unterschied dazu nur einen Teilbereich der Kultur , nämlich jenen , wo mit
künstlichen Mitteln die Natur um das Glück des Leibes willen beherrscht wird. ( Schlick
1908 , 72 f. ) Die Lebensweisheit enthält in diesem Zusammenhang eine deutliche Zivilisa-
tions- und Kulturkritik. In der Frage , ob der Verstand ein gutes Instrument für die Evo-
lution sei , äußert sich Schlick beispielsweise an folgender Stelle kritisch :
[ … ] in der Freude über das neue bequeme Werkzeug [ den Verstand ; A. S. ] benützte der
Mensch es so eifrig , daß es sich bald erstaunlich entwickelte , der Mensch war nicht reif ge-
nug für seinen Verstand und mißbrauchte ihn.
Er mißbrauchte ihn , indem er die Zivilisation in ihrer gegenwärtigen Gestalt schuf. ( Schlick
1908 , 75 )
Kritisch steht Schlick zudem einer unreflektierten Übernahme der Lehre vom Kampf ums
Dasein auf das menschliche Zusammenleben und einer bei Spencer damit verbundenen
Sicht , bei der Vernichtung des Kranken und Schwachen dürfe die Natur nicht behindert
werden ( vgl. Spencer 1893 ), gegenüber :
[ … ] die undurchdringlich komplizierten Daseinsverhältnisse , die Mannigfaltigkeit der bil-
denden und formenden Einflüsse im Menschengeschlecht bringen es mit sich , daß auch das
Kranke und Schwache auf seine Weise sehr wohl den aufsteigenden Entwicklungsprozeß be-
schleunigen kann und nicht notwendig hindern muß. ( Schlick 1908 , 286 )
Darwin war sogar der Ansicht , die Vernachlässigung der Kranken und Schwachen zer-
störe den edelsten Teil der menschlichen Natur. ( Vgl. Engels 2002 , 342 ) Ebenso spricht
sich Schlick gegen einen Krieg der Rassen aus , da dieser den Evolutionsprozess verzö-
gern könnte :
Der Krieg der Rassen wird neuerdings oft sehr gepriesen als der wirksamste Faktor in der
Entwicklung des Menschengeschlechtes. Er trage am meisten dazu bei , die Herrschaft über
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441