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9.2 Schlicks moralische und ethische Auffassungen vor seiner Wiener-Kreis-Periode
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den Erdball möglichst schnell in die Hände der höchstentwickelten Rasse zu bringen. Aber
es ist doch sehr wohl möglich , daß die kriegstüchtigste Rasse nicht auch zugleich die höchs-
te ist , denn Tüchtigkeit im Kriege und Vollkommenheit oder höchste Glücksfähigkeit sind
doch nicht einerlei
– und wenn beide nicht zusammenfallen , kann der erste Erfolg des Ras-
senkampfes offenbar nur eine Verzögerung des Evolutionsprozesses sein , denn er bereitet ja
den zur schließlichen Herrschaft Berufenen eine vorläufige Niederlage. ( Schlick 1908 , 272 )
Soweit zu Schlicks Glücks- und Evolutionsverständnis in der Lebensweisheit. Im folgen-
den Abschnitt wende ich mich nun der Frage zu , in welcher Beziehung Glück und Evo-
lution zur Moral stehen.
9.2.2.3 Evolution , Glück und Moral
Handelt es sich um eine evolutionistische Ethik im Sinne G. E. Moores ? Diese Aussagen über
die Evolution und das Glück sind in Schlicks Moralauffassung der Lebensweisheit einge-
bunden. Mit „Moral“ meine ich hier Schlicks Ansichten zur allgemeinen Lebensgestal-
tung und nicht nur seine Ansichten zur Sittlichkeit , die nur einen Teil der Moral ausma-
chen , wie wir sehen werden.
Die Rolle , die der Evolution für die Moral zugedacht wird , kann sehr unterschiedlich
aussehen. Die für die Moral bedeutendste Beziehung liegt bei evolutionistischen Ethi-
ken im Sinne G. E. Moores vor , der selbst jedoch , darauf sei hier ausdrücklich hingewie-
sen , als entschiedener Kritiker solcher Ethiken auftrat und dies vor allem an der Ethik
Spencers , der Schlick maßgeblich beeinflusste , zu demonstrieren gedachte.364 In Princi-
pia Ethica ( Moore 1903 ) versteht Moore unter einer „evolutionistischen Ethik“ die Auf-
fassung , dass der Verlauf der „Evolution“, insofern er die Richtung angibt , „in der wir uns
tatsächlich entwickeln“, „eben dadurch und deshalb auch die Richtung angibt , in der wir
uns entwickeln sollen“ ( Moore 1903 [ 1970 , 84 f. , siehe auch 96 , 98 ]). Diese Feststellung wird
gemeinhin dahingehend erweitert , als sie auf Werte ausgedehnt und so verstanden wird ,
Aussagen über die Evolution begründeten moralische Normen oder Werte hinreichend.
Es geht hier , und dies ist von besonderer Wichtigkeit , um eine Begründungsrelation. Un-
ter einer evolutionistischen Ethik im Sinne G. E. Moores verstehe ich daher im Folgen-
den eine Ethik , in der Aussagen über die Evolution hinreichend begründen , was aus mo-
ralischer Sicht getan werden soll bzw. als moralisch gut zu betrachten ist.
364 Die Interpretation von Spencers Lehre hinsichtlich der Beziehung von Evolution und Moral ist um-
stritten. Selbst Moore weist darauf hin , dass sich Spencer in Einzelheiten des naturalistischen Fehl-
schlusses bedient , dass bezüglich seines Grundprinzips jedoch zu zweifeln sei , ob Spencer nicht im
Grunde Hedonist sei ( Moore 1903 [ 1970 , 85 ]); wenngleich möglicherweise ein naturalistischer He-
donist. Gegen den Vorwurf des naturalistischen Fehlschlusses in Schutz genommen wird Spencer
u. a. von Eve-Marie Engels ( Engels 1993 ). Neben Spencer bezieht sich Schlick noch ausdrücklich auf
Edward Carpenter ( 1844–1929 ), Edward Kay Robinson ( 1875–1928 ) und John Ruskin ( 1819–1900 ), al-
lesamt Denker , die den Evolutionsgedanken für die Ethik fruchtbar zu machen versuchten.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441