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9.2 Schlicks moralische und ethische Auffassungen vor seiner Wiener-Kreis-Periode
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Qualitative Wertunterschiede zwischen verschiedenen Arten der Lust gebe es nicht , denn
man könne nicht von einem Werte der Lust sprechen , da erst die Lust Wertunterschiede
schaffe. ( Schlick 1908 , 41 ) Schlick sprach sich schon damals gegen ein absolutes Sollen aus :
[ … ]; das Wertvolle stellt sich stets als etwas heraus , wofür man Lust eintauschen , womit man
Unlust verscheuchen kann. Den Begriff des Wertes losgelöst und unabhängig vom Lustbe-
griff zu hypostasieren , ist – ebenso wie die Lehre vom „absoluten Sollen“
– eine philosophi-
sche Konstruktion , die der Erfahrung widerspricht. Alles scheinbar objektiv Wertvolle ist in
Wahrheit ein Gegenstand , der einen Affektionswert für jeden oder doch für die meisten hat.
( Schlick 1908 , 43 )
Bei Schlicks Ethik in der Lebensweisheit handelt sich zwar um eine hedonistische Ethik
bzw. durch seine Gleichsetzung von Lust und Glück um eine eudämonistische ,367 jedoch
um keine evolutionistische im Sinne G. E. Moores. Die Charakterisierung der Lebensweis-
heit durch Nelson Goncalves Gomes als kuriose Mischung von evolutionistischem Natu-
ralismus und empiristischer Ontologie bzw. Psychologie ist somit nicht zu halten. ( Vgl.
Gomes 1975 , 1 )
Ich möchte an dieser Stelle aber noch einmal daran erinnern , dass , wenn Schlick vom
Guten spricht , er das im Sinne des antiken Hedonismus ( für Menschen ) allgemein Gute
( griechisch agathón ) meint. Mit dem Guten im sittlichen Sinne ( griechisch kalón )368 hat
das zunächst nichts zu tun. ( Vgl. Reiner 1964 , 35 ) Schlick geht in der Lebensweisheit jedoch
ausführlich darauf ein , wie sich die Lust als allgemeines Gut zur Sittlichkeit verhält , wel-
che Gerechtigkeit und Güte umfasst. Die Regeln der Gerechtigkeit erlauben Menschen ,
andere , die sie nicht so gut kennen , zum Werkzeug ihrer Glückseligkeit zu machen. Als
Gerechtigkeit bezeichnet er darum nur „die Tugend unseres Verhaltens in der Öffentlich-
keit und gegen beliebige Unbekannte“. ( Schlick 1908 , 232 ) Die Güte hingegen handle auf-
grund der Kenntnis des Charakters der Mitmenschen. Bei jenen , die sie besser kennen ,
wollten Menschen lieber gütig als gerecht sein , weil ihre Güte viel eher dazu führen wür-
de , ihnen bei der Befriedigung ihrer eigenen Triebe zu helfen. ( Schlick 1908 , 235 f. ) Die
Sittlichkeit sei gut , insofern sie Mittel zum Erreichen von Lust sei :
367 Für den Eudämonismus ist Glückseligkeit ( griechisch eudämonia ) das höchste Gut. Schlick selbst
betont in einer eigenen prägnanten Charakterisierung seines Buches den Eudämonismus. ( Schlick
[ Autobiographie ], Nachlass Schlick , Inv.-Nr. 82 , C. 2b , 13 ). Außerdem hatte er mit den Korrektur-
fahnen im September 1907 vom Verlag die Aufforderung erhalten , das Vorwort zu ändern und neben
der psychologischen Methode und dem positivistischen Grundzug den Evolutionsgedanken hervor-
zuheben. ( Verlag C. H. Beck an Moritz Schlick , 9. September 1907 ; nach Iven 2006b , 34 ). Schlick
war dieser Aufforderung nicht nachgekommen. Meine Vermutung geht dahin , dass ihm der Evolu-
tionsgedanke für seine Grundaussage nicht wichtig genug erschien.
368 Griechisch kalón kann zudem das ästhetisch Gute bzw. Schöne meinen.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441