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9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre
284 9.2.2.5 Die Liebe als höchste soziale Tugend
Schlicks Jugendwerk gipfelt in einen Hymnus an die Liebe. Dieser letzte Abschnitt über
die Liebe entstand im Frühjahr 1907 kurz vor der offiziellen Verlobung. ( Iven 2008a , 151 )373
Sieht Schlick die Mitmenschen insgesamt als beste Quelle für die individuelle Glückse-
ligkeit , so gilt ihm dies in höchstem Maße für die liebende Beziehung zu den Mitmen-
schen , die eng mit dem Spiel verbunden ist :
Nun , auch in dem Verhalten gegenüber unserm Nächsten wird diese letzte Stufe der Voll-
kommenheit zu Zeiten von unsern Trieben wirklich erklommen. Denn in der Tat tau-
schen die Menschen rein spielende Handlungen aus – wozu natürlich auch Reden und
Blicke zählen
– und genießen darin ihre heitersten Stunden und innigsten geselligen Freu-
den. Und am meisten zu Spielen entwickelt haben sich gerade die Handlungen der Lie-
be. Aus ihnen fließen uns die lieblichsten Seligkeiten , reine Wonnen kindlichen Glücks ,
in denen unsere Seele sich dem unschuldigen Gemüte der Kinder am nächsten verwandt
fühlt. Unendlich mannigfach sind die Spiele der Liebe ; sie gehen von der leichten Tände-
lei bis zu den erhabensten Bewegungen der Seele , von dem freundlichen Streicheln , mit
dem wir einen Hund liebkosen bis zum Küssen der Geliebten und bis zum Wechselspiel
innig sich berührender Seelen , dem schönsten aller Spiele , das vielleicht einst die einzige
Form sein wird , in welcher seelische Regungen von Mensch zu Mensch überhaupt sich
äußern. ( Schlick 1908 , 339 )
Das ganze Zusammenleben mit Menschen als ein Liebesspiel ist Schlick das höchste Ziel
der Glückseligkeit :
Alles Leben mit Menschen ein Liebesspiel – das ist das letzte noch sichtbare Ziel aller
menschlichen Anpassung und Vollendung … ( Schlick 1908 , 340 )
373 Zu dieser Zeit klagte seine zukünftige Ehefrau , die an der Cushing Academy , einer koeduka-
tiven Secondary School , lehrte , er wolle sich nicht mit ihr über seine Arbeit unterhalten. Seine
Antwort , es sei gegen seine Natur , sich viel über seine Arbeit zu unterhalten , erscheint insofern
nicht sehr überzeugend , als er sich mit seinem Freund Erich Lilienthal darüber sehr wohl aus-
tauschte. ( Iven 2008a , 151 ) Möglicherweise wollte er ihr nicht eröffnen , was über gelehrte Frauen
in seinem Werk geschrieben steht : „Wo aber die Leidenschaft des Wahrheitssuchens Individuen
ergreift , die sich nicht nach verschiedenen Seiten zugleich kraftvoll zu entwickeln vermögen , da
tritt die Gefährlichkeit des Triebes augenfällig in Erscheinung. Aus diesem Grunde macht die
gelehrte Frau so sehr den Eindruck eines zur natürlichen Weiblichkeit in Gegensatz stehenden
Kunstproduktes ; und an ihr ist mit großer Deutlichkeit zu sehen , wie der Wille zur Wahrheit sei-
ne Diener in eine Richtung zu drängen strebt , welche der natürlichen Linie gesunder Entwick-
lung zuwiderläuft.“ ( Schlick 1908 , 150 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441