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9.2 Schlicks moralische und ethische Auffassungen vor seiner Wiener-Kreis-Periode
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9.2.2.6 Kontinuitäten und Diskontinuitäten
Mormann fühlt sich mit der Lebensweisheit an eine Rokokoidylle des 18. Jahrhunderts er-
innert. ( Mormann 2010a , 268 ) Viel Ornament , von Askese weit und breit keine Spur.374
Ein logisch-empiristisches Verbrechen. Tatsächlich ist die Lebensweisheit in Stil und In-
halt sehr weit davon entfernt , was von Schlick als einem Logischen Empiristen , wenn auch
späteren , zu erwarten wäre.375 Einiges wird sich in Schlicks ethischem Denken , in Stil und
Duktus durchaus ändern. Die Beziehung zwischen Evolution und Moral stellt eine die-
ser Diskontinuitäten dar. Der erbauliche , reißerische Ton wird zurückgenommen.376 Die
Kontinuitäten zwischen diesem Werk und späteren werden jedoch , wie sich herausstel-
len wird , überwiegen.
Eudämonismus : Bei allen Veränderungen , die sich in Schlicks Entwicklung einstellen
werden , wird Schlick allem voran seinen Eudämonismus nicht aufgeben. Aus der Perspek-
tive um 1920 fasst Schlick das Werk bereits in diesem Sinne zusammen :
Das Buch stellt , kurz gesagt , den Versuch der Begründung eines individuellen Eudämonis-
mus dar. Es fasst alles Handeln auf als ein Reagieren auf die Reizung gewisser im Menschen
vorhandener angelegter Triebe und sucht zu zeigen , dass im Leben des Individuums und der
Gattung jene Triebe sich so gestalten müssen , dass „sittliches“ und glückbringendes Han-
deln zusammenfällt. Auf diese Weise entwickelt es in Form einer Güterlehre einen besonde-
ren Begriff der höchsten Sittlichkeit gegenüber manchen überlieferten Wertungen. ( Schlick
[ Autobiographie ], Nachlass Schlick , Inv.-Nr. 82 , C. 2b , 12 f. )
Aufgabe der Ethik : Was die Aufgaben der Ethik betrifft , wird sich entgegen den Beteue-
rungen Schlicks ein Wandel hin zum Normativen vollziehen , bei gleichzeitiger Kontinu-
ität im Inhaltlichen. Im Vorwort der Lebensweisheit teilt Schlick noch mit , er wolle kei-
ne Vorschriften machen oder Ratschläge geben. Als rein wissenschaftliches Werk wolle
es nur theoretische Aussagen machen , keine Werturteile fällen.377 Die Rolle als Ethikerin
oder Ethiker stellt er uns als Analogie zu Medizinerinnen und Medizinern vor , die Lehr-
bücher schreiben , aber keine Ratschläge erteilen wie Ärztinnen und Ärzte. Die Leserin-
nen und Leser bekämen keine Ratschläge und Aufforderungen , sehr wohl aber wichtige
374 Die Ideale asketischer Lebens- und Wissenschaftsformen liegen Schlick nicht. Daher klingt vieles
für jene , die das asketische Ideal teilen , schwulstig und affektiert.
375 Ebenso attestiert Strobach der Lebensweisheit „zeitgebundenes Pathos , etwas altklug und rhetorisch
überinszeniert“, urteilt jedoch positiv , dass damit der Ton jener Zeit stimmig getroffen wurde. ( Stro-
bach 2008 , 279 )
376 Überraschenderweise gehörte in Schlicks eigenen Augen „die dozierende Diktion“ zu den Gründen ,
die Schlick bewogen , das Werk schon bald als missraten zu erachten. ( Schlick [ Autobiographie ],
Nachlass Schlick , Inv.-Nr. 82 , C. 2b , 13 )
377 „Allein die wissenschaftlichen Aussagen also sind nicht praktischer Natur ; alle übrigen Urteile , je-
der gedachte , gesprochene oder geschriebene Satz , sind Werturteile.“ ( Schlick 1908 , 42 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441