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9.2 Schlicks moralische und ethische Auffassungen vor seiner Wiener-Kreis-Periode
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9.2.2.7 Schlussbemerkungen zur Lebensweisheit
Bei der Lebensweisheit handelt sich um ein unausgereiftes , ungestümes Jugendwerk , ob-
wohl es ob seiner Themenfülle durchaus anregend wirkt , und wenngleich nicht origi-
nell , so präsentiert es sich doch in vielen Teilen als eine geistreiche Zusammenstellung
von anderswo entdeckten für Schlick wichtigen Gedanken. Wer sich für Schlicks Ethik
interessiert , kann an der Lebensweisheit nicht vorbei , in der „das Streben nach Wissen-
schaftlichkeit und bildungsbürgerlicher Erbauung eine eigentümliche Mischung“ einge-
hen ( Mormann 2010a , 268 ). Selbst dort , wo sich an der Oberfläche Änderungen vollzie-
hen , verschaffen sich die ursprünglichen Fragestellungen immer wieder Durchbruch. So
wird z. B. im zweiten Teil der Fragen ein Bruch vollzogen werden , der erst durch Schlicks
Ausgangspunkt Lebensweisheit verständlich wird.
Zudem zeigt die Lebensweisheit durch ihre Fülle an Bezügen ,380 dass Schlick auch in der
Ethik viel stärker in der Tradition – insbesondere der deutschen – verwurzelt ist , als dies
für den Logischen Empirismus zur Kenntnis genommen wird oder Logische Empiris-
tinnen und Empiristen selbst von sich behaupten. Die weiteren publizierten Werke wer-
den in einem anderen Kontext entstehen , doch Schlick wird noch einige Jahre im Umfeld
deutscher Philosophie arbeiten.
Ab 1906 überlegte Schlick , wo er mit einer philosophischen Arbeit habilitieren könnte.
Zur Wahl standen u. a. Freiburg und Jena. Freiburg schied durch das schlechte Klima aus
( Iven 2008a , 146 ), Jena , weil er die philosophischen Ansichten Rudolf Euckens zu veraltet
fand. ( Iven 2008a , 157 ) So ging Schlick zunächst nach Zürich , wo er u. a. bei Gustav Wilhelm
Störring Lehrveranstaltungen zur Philosophie und Psychologie besuchte.381 Ein Habilitati-
onsversuch in Zürich mit einer ersten Arbeit über Wahrheit scheiterte , ebenso Pläne , in Kiel
oder Gießen zu habilitieren. Erst 1911 war Schlick in Rostock sodann mit seinem Habilita-
tionsansuchen erfolgreich.382 Seine Habilitation mit der Schrift Das Wesen der Wahrheit nach
der modernen Logik verdankt er nicht zuletzt Franz Erhardt , einem Schüler Euckens ( Ferra-
380 Er bezieht sich zudem auf Thomas Carlyles ( 1795–1881 ) Definition des Menschen als „tool-using ani-
mal“ in Carlyles Satire Sartor Resartus ( 1883 /84 , Buch 1 , Kapitel 5 ) ( Schlick 1908 , 86 ) und wiederholt
auf dessen Freund Ralph Waldo Emerson ( 1803–1882 ), einen amerikanischen Philosophen und Dich-
ter , der mit Margaret Fuller und Henry David Thoreau die Bewegung der amerikanischen Transzen-
dentalisten gründete. Der Bewegung ging es um ein von künstlichen Zwängen freies Leben , und sie
engagierte sich für die Befreiung von Sklavinnen und Sklaven , die Frauen- und Naturschutzbewegung.
381 An Schlick sollte 1929 der Ruf als Nachfolger von Störring ergehen. ( Iven 2008a , 168 , Fn. 137 ) Schlicks
Unterhalt und der seiner Familie , die er in der Zwischenzeit gegründet hatte , wurde übrigens wei-
terhin von Schlicks Vater finanziert.
382 In seinem Habilitationsgutachten geht Erhardt u. a. auf die Lebensweisheit ein und bemerkt , dass
„das wissenschaftlich-philosophische Element in diesem Werke über das populäre“ überwiege. Er
erklärt sich aber mit den Ergebnissen der Überlegungen zur Glückseligkeitslehre „nur in geringe-
rem Maße einverstanden“ ( vgl. Ferrari 2013 , 95 ). Das Gutachten findet sich in : Parthey / Vogel 1969 ,
36–37. Gleichzeitig fand das Habilitationsverfahren von Emil Utitz statt , der sich als Privatdozent
für Ästhetik habilitierte. ( Ferrari 2013 , 96 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441