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9.3 Schlicks moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode
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Schlick sieht sich in dem wiederum sehr pathetischen und metaphernreichen Text in
der Rolle des Suchenden , der das Fragen nach dem Sinn des Lebens noch nicht aufge-
geben hat :
[ … ] wir wollen uns nicht zu den Müden und Blasierten gesellen , die an keinen Sinn des
Daseins mehr glauben , weil sie in dem ihrigen keinen finden konnten. ( Schlick 1927a , 331 )388
Er spricht sich gegen den Pessimismus Schopenhauers aus , meint , Nietzsche habe die
Flucht zur Kunst und in die Wissenschaft zu Recht überwunden , und pflichtet Nietzsches
Zarathustra bei , Erlösung sei erst jenseits der „Knechtschaft unter dem Zwecke“ ( Nietz-
sche 1883–1885 [ 1968 , 205 ]) zu finden. Der weiseste Nietzsche sei deswegen der Nietzsche
des Zarathustra. Den hohen Stellenwert der Arbeit beurteilt Schlick deshalb in Rückgriff
auf seine Definition von Arbeit aus der Lebensweisheit als negativ. ( Schlick 1927a , 332 ff. )
Dabei gehe es lediglich um die reine Lebenserhaltung. Der Sinn des Lebens könne jedoch
nur in einem Inhalt des Lebens liegen :
Der Kern und letzte Wert des Lebens kann nur liegen in solchen Zuständen , die um ihrer
selbst willen da sind , die ihre Erfüllung in sich selber tragen. ( Schlick 1927a , 334 )
Wie schon in der Lebensweisheit nennt Schlick solche Tätigkeiten Spiel und zitiert aus
Schillers Über die ästhetische Erziehung des Menschen :
[ … ] um es endlich auf einmal herauszusagen : der Mensch spielt nur , wo er in voller Bedeutung
des Wortes Mensch ist , und er ist nur da ganz Mensch , wo er spielt. ( Schiller 1795 , 15. Brief )
Möglichst viele Tätigkeiten in spielerische zu verwandeln , hält Schlick für keine Träu-
merei , denn es können ebenso schöpferische Tätigkeiten darunter fallen , die das Lebens-
notwendige hervorbringen. Nicht nur Künstlerinnen und Künstler sowie Forschende389 –
Schlicks Paradespielerinnen und -spieler – würden spielerische Tätigkeiten ausführen :
Jeder echte Qualitätsarbeiter kann an sich selbst die Umbildung des Mittels zum Selbstzweck
erfahren , die fast mit jeder Beschäftigung vor sich gehen kann , und die das Erzeugnis zum
Kunstwerk macht. ( Schlick 1927a , 338 )
Arbeiten , wo dies nicht möglich sei – Sklavenarbeiten – , seien unnötig , der Verwirkli-
chung des Schiller’schen Traums stehe kein Naturgesetz entgegen , ein Leben wie das „der
388 Textversion und Seitenangaben beziehen sich auf die Publikation als Aufsatz im Symposion. Der Auf-
satz ist wiederabgedruckt in : MSGA I , 3 , 99–125.
389 Inwieweit Schlick von Forscherinnen sprechen will , lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441