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9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre
294 protestantischen Arbeitsethos jedoch insofern verbunden , als er sich noch 1927 die Arbeit
an seiner Philosophie der Jugend nur in den Mußestunden zugestand. ( Schlick 1927a , 346 )
Zu energischem Widerspruch sah sich u. a. Max Planck ( Briefe vom 8. u. 21. August
1927 ; vgl. Iven 2002 , 318 , Fn. 52 ) herausgefordert. „Lebe jugendlich“ würde die Idee der
Verantwortlichkeit in den Hintergrund rücken , und die Jugend würde gerade nicht nach
dem Sinn des Lebens fragen. Planck schlägt als Alternative vor :
Trachte danach , daß in allen Lebenslagen deine Gedanken mit einander und mit deinen
Handlungen in Uebereinstimmung bleiben. Ob die angestrebten Ziele wirklich erreicht wer-
den , ist erst in zweiter Linie von Bedeutung ; das muß man der Zukunft überlassen. [ … ]
Aber ganz ohne Zweck und Ziel kann ein vernünftiger Mensch nicht leben ; denn er ist nun
einmal kein Tier , und auch kein Kind. ( Planck an Schlick , 8. September 1927 ; zit. n. Hoff-
mann 2008 , 50 )
Die Sehnsucht nach dem Glück der Jugend sei lediglich eine Alterserscheinung.
Öffentlich zu Vom Sinn geäußert hat sich Emil Utitz , Schlicks Kollege aus Rostock.394
Er bespricht das Werk 1930 in einem Rezensionsaufsatz zur Philosophie der Jugend für
die Kant-Studien. Neben Schlicks Schrift behandelt er José Ortega y Gassets Die Aufgabe
unserer Zeit ( 1928 ). Einleitend hält Utitz sogleich das für viele unverständliche Verhältnis
von Wissenschaftlichkeit und Schlicks Persönlichkeit fest :
[ … ] außerhalb der so eifervoll gehüteten Wissenschaftlichkeit steht vorerst die menschlich
so warme , gütige , im edelsten Sinne des Wortes kindliche Persönlichkeit Schlicks. ( Utitz
1930 , 450 )
Utitz’ erstes Urteil über die Schrift klingt durchaus positiv :
Hinreißender , gläubiger , menschlich ergreifender hat wohl noch kein Philosoph das Lied
der Jugend gesungen als eben Moritz Schlick. [ … ]: das Lichte , Heitere , Unschuldige , Kla-
re , Glückliche. Ein holder Reigen anmutig tanzender Engel ist es , der gleich einem Ideal-
bild sich hier zeigt. ( Utitz 1930 , 453 )
Utitz hat keine grundlegenden Schwierigkeiten mit Schlicks philosophischem Stil in die-
ser Arbeit , und er weiß Schlicks kommunikative Kompetenz zu schätzen. Weniger einver-
394 Utitz ( 1883–1956 ) war in Prag Klassenkollege Franz Kafkas und begegnete früh Franz Brentano. 1906
promovierte er bei Christian von Ehrenfels und habilitierte sich 1910 in Rostock. Nach einem Auf-
enthalt in Prag kehrte Utitz 1915 nach Rostock zurück. 1933 emigrierte er nach Prag , wo er Brenta-
nos Nachlass betreute und Thomas Masaryk als Volkserzieher feiert. ( Vgl. Utitz 1935 und Mehring
2003 , 764 f. ) Außerdem publizierte Utitz über Bolzanos Ästhetik. Für diesen Hinweis danke ich
Otto Neumaier.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441