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9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre
298 am 21. Jänner 1928 einen Vortrag „Ethik der Pflicht und Ethik der Güte“ in der Wiener
Ethischen Gemeinde ( Iven 2006c , 336 ), die beide als direkte Vorarbeiten zu diesem Buch
angesehen werden können.
Als Leitfaden zur Untersuchung der Fragen dient mir in diesem Abschnitt explizit die
Standardauffassung logisch-empiristischer Ethik , der dieses Werk gemeinhin zugerechnet
wird. Was in den Fragen ist mit der Standardauffassung vereinbar , was nicht ? An gegebe-
ner Stelle werde ich dabei zudem Schlicks Moral verständnis erörtern und im Anschluss
daran auf zwei Probleme noch einmal gesondert eingehen , nämlich auf die Frage nach ei-
ner Absage an eine normative Ethik und die Einordnung von Schlicks Theorie moralischer
Werte im metaethischen Raster von Kognitivismus und Nonkognitivismus.
9.3.2.2 Ethik als Moralpsychologie
Schon im Vorwort zu den Fragen spricht Schlick explizit davon , seine Schrift enthalte Sätze
im strengen Sinne , nämlich solche , die das Verhalten der Menschen beträfen und die des-
halb in den Bereich der Psychologie fielen. Er zieht sich damit auf eine Wittgenstein’sche
Position zurück. Die Psychologie ist für ihn nämlich die „empirische Wissenschaft von
den Gesetzen des Seelenlebens“ ( Schlick 1930 , 21 ) bzw. des menschlichen Verhaltens. Die
empirische Ethik stellt für ihn somit eine Teildisziplin der Psychologie dar. Ihre zentra-
le Aufgabe liege in der Erklärung des moralischen Handelns , und dies heißt für Schlick
wiederum , dieses Handeln auf Gesetze zurückzuführen , wie er es bereits im Frühwerk Le-
bensweisheit handhabte. ( Schlick 1930 , 105 ) Die Grundfrage der Ethik , welche Schlick in
den Fragen nun moralpsychologisch behandeln will , lautet : Warum handelt der Mensch
moralisch ?
Schlicks Antwort besteht wenig überraschend in einer hedonistischen Handlungs- und
Motivationstheorie. Eine zentrale Rolle wird hierbei einem allgemeinen Motivationsge-
setz eingeräumt :
[ … ] von den als Motiv wirkenden Vorstellungen setzt sich die schließlich am meisten lust-
betonte oder die am wenigsten unlustbetonte durch und verdrängt die übrigen , [ … ]. ( Schlick
1930 , 29 )400
Neu an einem solchen Vorschlag ist sicherlich nicht , dass es sich um eine hedonisti-
sche Handlungstheorie handelt. In der Antike war beispielsweise Epikur , an den sich
Schlick schon in der Lebensweisheit eng anlehnte , ein prominenter Vertreter dieser Positi-
on , in der jüngeren Geschichte der Ethik etwa Mill , den Schlick ebenfalls hoch schätzte.401
400 Der Größenvergleich wird dahingehend erläutert , „mehr oder weniger“ meinten in diesem Zusammen-
hang keinen quantitativen Maßstab , sondern eine komparative Ordnung. ( Vgl. Hegselmann 1984 , 35 )
401 1931/32 folgte Schlick dem Ruf als Mills Professor of Intellectual and Moral Philosophy an die Uni-
versity of California ( Berkeley ), nachdem er 1929 bereits als Gastprofessor in Stanford gelehrt hatte.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441