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9.3 Schlicks moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode
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Auf beide Denker rekurriert Schlick , wie wir bereits gesehen haben , in seinen ethischen
Schriften häufig und zustimmend. Der Unterschied zu älteren Formen hedonistischer
Handlungstheorie besteht vielmehr darin , dass in Schlicks Version die Vorstellungen , die
die Handlung motivieren , im Unterschied zu älteren hedonistischen Handlungstheori-
en nicht selbst Vorstellungen von Lust sind. Die Lust sei lediglich ein Begleitphänomen
dieser Vorstellung.402
Für die Erklärung moralischen Handelns heißt dies zunächst allgemein : Wie für andere
Handlungen gelte das Motivationsgesetz auch für moralische Handlungen. Der Mensch
handle deshalb genau dann moralisch , wenn die als Motiv für moralisches Handeln wir-
kende Vorstellung die am meisten lustbetonte oder die am wenigsten unlustbetonte sei.
Diesem Verständnis gemäß kann es kein moralisches Handeln ohne Lust geben. Alles an-
dere sei lebensfremd. Ethikerinnen und Ethiker sollten sich , so Schlick in seiner der Le-
benspraxis verpflichteten Sichtweise , jedoch davor hüten , „lebensfremde Konstruktionen
an die Stelle der wirklichen Menschenseele“ zu setzen.403 Selbst Opferbereitschaft , Hero-
ismus und ähnliche Erscheinungen hält Schlick mit dieser Theorie für erklärbar.
Inwiefern diese Theorie heutigen moralpsychologischen Erkenntnissen standhält , sei
dahingestellt. Im hier zu interessierenden Zusammenhang gilt es lediglich hervorzuheben ,
dass Schlick einen Gutteil seiner Untersuchungen in den Fragen moralpsychologischen
Fragen widmet , allen voran solchen der Handlungsmotivation. Insoweit weicht Schlick
hierin nicht von der Standardauffassung logisch-empiristischer Ethik ab.
9.3.2.3 Ethik als Sprachanalyse : Schlicks Moralauffassung und subjektivistische
Wertlehre
Analyse des Begriffs „moralisch gut“: Eine weitere Aufgabe der Ethik besteht für Schlick in
Sprachanalyse als Begriffs- und Sinnklärung. Damit die Psychologie die Motivation des
moralischen Handelns untersuchen kann , müsse sie wissen , wann sie es mit moralischem
Verhalten zu tun habe und wann nicht , um das Untersuchungsgebiet abgrenzen zu kön-
nen. Dazu müsse sie , so Schlick , die Bedeutung von „moralisch“ bzw. „moralisch gut“ ken-
nen. Diese Aufgabenstellung steht ganz im Einklang mit Schlicks Verständnis der Phi-
losophie aus seiner logisch-empiristischen Periode als Begriffsklärung , wie er sie sowohl
im Vorwort zu den Fragen als auch an zahlreichen weiteren Stellen in seinen logisch-em-
piristischen Schriften ausführt.404 Während die Ethik als Moralpsychologie zu den Wis-
senschaften zählt , sei Philosophie keine Wissenschaft. Der Philosophie obliege vielmehr
402 Da immer nur das Objekt , nicht die Lust , gewollt werde , könne man auch etwas , das Unlust erzeu-
gen wird , mit Lust vorstellen. Im Näheren vgl. zu Schlicks Motivationstheorie Reiner 1964.
403 Schlick grenzt sich hier wie an anderen Stellen gegen Kant ab. Obwohl es Schlick in der Moral um
eine Beurteilung des Charakters geht , stellt er die Frage auf der Handlungsebene , „denn schließlich
kann man seinen [ des Menschen ; A. S. ] Charakter nie anders erkennen als aus seinen Handlungen“
( Schlick 1930 , 117 ).
404 Siehe etwa Schlick ( 1930/31 ).
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441