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9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre
300 in Ergänzung dazu die Begriffs- und Sinnklärung im Dienste der Wissenschaften ( unter
anderem , wie wir unten sehen werden ). Eine Aufgabe der Ethik im weiteren Sinne , die
die philosophischen Aktivitäten mit umfasst , besteht also darin , im Dienste der Ethik im
empirischen Sinne ( als psychologische Wissenschaft ) Begriffe zu klären.
Dabei müsse dem wissenschaftlichen Sprachgebrauch nach Schlicks Auffassung die
alltägliche Bedeutung eines Wortes zugrunde liegen.405 Seine Zugangsweise sieht fol-
gendermaßen aus : Wer sich theoretisch mit etwas beschäftigt , muss das , womit er sich
beschäftigt , aus dem Leben , der Erfahrung nehmen. Das gelte sowohl für die Moral als
auch die theoretische Beschäftigung mit Moral in einer Ethik. Deshalb fragt Schlick in
diesem thematischen Zusammenhang ausgehend von der Alltagssprache nach der Be-
deutung des zentralen Begriffs „moralisch gut“, für den er „sittlich gut“ als synonym ver-
wendet , womit angezeigt ist , dass der Fokus in den Fragen nun auf der Moral im engeren
Sinne liegt , im Unterschied zur Lebensweisheit , die beim allgemeinen Guten ansetzte. In
der Bedeutung von „moralisch gut“ unterscheidet er sodann eine formale und eine ma-
teriale ( inhaltliche ) Komponente. In formaler Hinsicht sei das moralisch Gute das , was
getan werden soll. In materialer Hinsicht bestehe es aus Willensentschlüssen ( mittelbar
damit von Verhaltensweisen und Charakterdispositionen ), die von einer Gesellschaft ge-
billigt werden :
Das Wort „gut“ hat den moralischen Sinn , wenn es 1. sich auf menschliche Willensentschlüsse
bezieht und 2. eine Billigung durch die menschliche Gesellschaft ausdrückt. ( Schlick 1930 , 60 )
„Von der Gesellschaft gebilligt“ heißt : „er wird von der überwiegenden Mehrzahl derjeni-
gen Menschen gewünscht , mit denen das Individuum durch Tat , Wort und Schrift in Be-
rührung kommt.“ ( Schlick 1930 , 60 f. ) Subjekt der Billigung ist die ( bzw. eine ) mensch-
liche Gesellschaft , mit der x auf besagte Weise in Berührung kommt. Die Vagheit dieser
Bestimmung hält Schlick an derselben Stelle übrigens für wesentlich.406 Gewünscht wer-
den wiederum die Willensentschlüsse , von denen die Gesellschaft glaubt , dass sie ihre ei-
gene Wohlfahrt am meisten fördere. Schlick antwortet auf die Frage : „Was heißt mora-
lisch [ gut ]?“ auf dieser Grundlage auch :
Dasjenige Verhalten , von dem die menschliche Gesellschaft glaubt , daß es ihre eigne Wohl-
fahrt am meisten fördere. ( Schlick 1930 , 118 )407
405 Vgl. Gomes ( 1975 , 101 ).
406 Später heißt es : „[ Diese Verschwommenheit und Relativität ] gehört eben zu den Tatsachen , die der
Moralphilosoph vorfindet , und die den Begriff der guten Gesinnung so undeutlich macht wie den
des ‚guten Wetters‘.“ ( Schlick 1930 , 143 )
407 Vgl. Rutte 1986.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441