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9.3 Schlicks moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode
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Damit wird der Inhalt der Moral durch die ( jeweilige ) Gesellschaft bestimmt. Moral ist
nach Schlicks Auffassung ein gesellschaftliches Unternehmen , kein rein individuelles wie
bei Carnap. Und dieser geht es um die Wohlfahrt und das Glück der Allgemeinheit. Aus Er-
fahrung gebe es hier von Gesellschaft zu Gesellschaft Abweichungen , aber ebenso Gemein-
samkeiten. Letztere sieht Schlick etwa in der positiven Bewertung von Hilfsbereitschaft ,
Zuverlässigkeit und Verträglichkeit. Diese würden von allen Gesellschaften als moralisch
gut bewertet , so nimmt Schlick an. Bei allen Unterschieden bleibe deshalb eine ausreichen-
de Zahl moralischer Vorschriften , über die keine Meinungsverschiedenheiten bestehen wür-
den. ( Schlick 1930 , 143 ) Schlick ist überzeugt , es gebe „weite Bezirke , in denen Einhelligkeit
und Sicherheit der moralischen Wertungen konstatiert“ werde. ( Schlick 1930 , 10 ) Dieser Be-
reich umfasse insbesondere altruistische Gesinnungen und Handlungsweisen , welche den
Kernbereich der Moral bildeten. Für Schlick ist die Moral eine gesellschaftliche Instituti-
on , die in formaler Hinsicht angibt , was getan werden soll , und in inhaltlicher Hinsicht da-
rauf gerichtet ist ( ihren Zweck darin hat ), die Wohlfahrt der Gesellschaft zu fördern. Es
sei deshalb ein selbstverständlicher Schluss der Methode der empirischen Erkenntnis , dass
die Termini „moralisch gut“ und „die Lust der Gesellschaft fördernd“ umfanggleich seien.
( Schlick 1930 , 63 )408 Es handelt sich dem Anspruch nach um eine Rekonstruktion tatsäch-
licher Wortbedeutung , die präzise genug ist , um den Gegen
standsbereich der Moralpsy-
chologie festzulegen. Mehr will Schlick in diesem Zusammenhang zunächst nicht leisten.
Einen weiteren Weg , die materiale Komponente von „moralisch gut“ herauszufinden ,
sieht Schlick durch die Analyse von Normen. Diese Arbeit setzt er jedoch als bereits er-
ledigt voraus. Obgleich ich hier nicht näher darauf eingehen werde , gilt es doch , sich klar
vor Augen zu führen und festzuhalten , dass für Schlick Normen einer theoretischen Be-
handlung zugänglich sind und sie seiner Ansicht nach in logischen Relationen zueinan-
der stehen können. Der Zweck der Systematisierung und Hierarchisierung moralischer
Normen besteht für Schlick wiederum lediglich in einer sprachlichen Vorarbeit , um der
Psychologie den Forschungsgegenstand zu liefern.
Analyse des Begriffs „gut“: Der Ausdruck „moralisch gut“ ist für Schlick ein Spezialfall
des Ausdrucks „gut“. Allgemein liege , wie schon in der Lebensweisheit , die Wertqualität
eines Gegenstandes in seiner Disposition , einem Subjekt Lustzustände zu verschaffen :409
[ … ] der Sinn jeder Aussage über den Wert eines Gegenstandes [ besteht ] immer darin , daß
dieser Gegenstand oder die Vorstellung von ihm einem fühlenden Subjekte Lust- oder Un-
lustgefühle bereitet. Ein Wert besteht immer nur in bezug auf ein Subjekt : er ist relativ.
408 Auf die Frage , wie sich das Glück bzw. die Wohlfahrt der Allgemeinheit zum Glück der Einzelnen
verhält , geht Schlick an dieser Stelle nicht näher ein. Später wird er bei seinem eigenen Vorschlag
das Maximum der Glücksfähigkeit einer Gemeinschaft dann als gegeben ansehen , „wenn jedes In-
dividuum für sich die höchste Glücksfähigkeit erreicht hat“ ( Schlick 1930 , 143 f. ).
409 Ebenso heißt es bereits in einer Vorlesung von 1912 /13 : „Wert ist nämlich nichts andres als die Fähigkeit
[ … ], Lust zu erzeugen“ ( Schlick [ Grundfragen der Ethik ], Nachlass Schlick , Inv.-Nr. 4 , A. 4b , 10 ).
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441