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9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre
302 Gäbe es keine Lust und Unlust in der Welt , so existierten keine Werte ; alles wäre gleichgül-
tig. ( Schlick 1930 , 88 )
Werte gingen aus dem Zusammenwirken von Gegenständen und dem affektiven Bereich
von fühlenden Wesen hervor. Obgleich die Lustmöglichkeiten in Gegenständen „schlum-
mern“, so kommen die Werte für Schlick , wie er sagt , „durch Akte des Vorziehens und
Auswählens [ … ] erst in die Welt hinein“ ( Schlick 1930 , 77 ).410
Die wichtigste Folgerung für Schlick daraus ist die Ablehnung der Lehre von absolu-
ten Werten , der gemäß Werte in keiner Weise auf Lustgefühlen gründen. ( Schlick 1930 ,
74 ) Wert hänge dieser Lehre zufolge nicht von den Gefühlen ab , sondern komme allei-
ne den Gegenständen zu. Das schließt Schlicks Verständnis von Werten von vornher-
ein aus. Er hält die vorgeschlagenen Alternativen zu seiner Lösung in der Wertfrage für
sinnlos. Gäbe es Werte , die in dem Sinne „absolut“ seien , dass sie mit keinem Fühlen et-
was zu tun hätten , so bildeten sie nach Schlicks Auffassung ein Reich für sich , das in die
Welt des Wollens und Handelns an keiner Stelle hineinrage. Werte existieren nur relativ
zu fühlenden Subjekten.
Und wenn ein Philosoph sagt : „Ja , aber außerdem haben sie noch ein absolutes Dasein !“
– so
wissen wir , daß diese Worte dem prüfbaren Sachverhalt nichts Neues hinzufügen , daß sie
also bedeutungsleer sind , daß seine Behauptung sinnlos ist. ( Schlick 1930 , 87 )411
Die bisherigen Inhalte der Fragen können als Versuch einer empirischen Moralwissen-
schaft verstanden werden. Und Schlick tut einiges , um dieses Verständnis seines Unter-
nehmens nahezulegen. Schon im Vorwort und im ersten Kapitel , das die Überschrift „Was
will die Ethik ?“ trägt , teilt er mit , worin die Aufgaben der Ethikerinnen und Ethiker lie-
gen würden und worin nicht. Sätze wie „Dieser Mensch hat eine gute Gesinnung“ würden
in dieser Schrift nicht aufgestellt , sondern seien Untersuchungsgegenstand. Er nennt sei-
ne Schrift eine wissenschaftliche , in der er Wahrheiten
– und seiner Meinung nach sogar
nicht unwichtige
– mitzuteilen habe. Die Ethik als Wissenschaft gebe Erkenntnis. Wenn-
gleich die Beschäftigung mit Ethik ein praktisches Ziel haben mag , so habe sie selbst als
Ziel nur die Wahrheit. Für Ethikerinnen und Ethiker gebe es keine größere Gefahr , „als
aus einem Ethiker zu einem Moralisten zu werden , aus einem Forscher zu einem Predi-
ger“ ( Schlick 1930 , 1 ). Ethik sei Theorie und suche nur Erkenntnis. Es könne vor allem
[ … ] nicht ihre Sache sein , das Moralische zu schaffen , zu setzen , ins Leben zu rufen , sei es
das Leben im Begriff oder in der Realität. Sie hat nicht die Aufgabe , das Gute zu machen ,
410 Diese Subjektivität bedeutet jedoch keineswegs Willkür , insofern die fühlenden Subjekte einen Ge-
genstand nach Belieben für wertvoll oder wertlos erklären könnten ( Schlick 1930 , 88 ).
411 Siehe dazu weiter unten zur Frage des Schlick’schen Kognitivismus.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441