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9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre
304 komme , sei keineswegs Willensfreiheit , sondern Verantwortlichkeit.413 Das traditionel-
le Argument für die Unvereinbarkeit von Determinismus und moralischer Verantwort-
lichkeit lautet :
Wenn der Determinismus recht hat , wenn also alles Geschehen unabänderlichen Gesetzen
gehorcht , dann ist auch mein Wille stets durch meinen angeborenen Charakter und die je-
weils wirkenden Motive determiniert. Meine Willensentschlüsse sind also notwendig , nicht
frei. Ist dem aber so , so bin ich nicht für meine Handlungen verantwortlich , denn sie könn-
ten mir nur dann zugerechnet werden , wenn ich „etwas dafür könnte“, wie meine Willens-
entscheidungen ausfallen ; ich kann aber nichts dafür , denn sie gehen mit Notwendigkeit
aus Charakter und Motiven hervor. Beide habe ich aber nicht selbst gemacht , ich habe kei-
ne Macht über sie , denn die Motive kommen ja von außen , und der Charakter ist das not-
wendige Produkt der angeborenen Anlagen und der äußeren Einflüsse , die während meiner
Lebenszeit gewirkt haben. Also sind Determinismus und sittliche Verantwortlichkeit unver-
einbar. Moralische Zurechnung setzt mithin Freiheit , d. i. Dispens von der Kausalität vor-
aus. ( Schlick 1930 , 107 )
Das Ganze beruhe auf einer Reihe von begrifflichen Verwechslungen. Die erste Verwechs-
lung betrifft das Wort „Gesetz“. Werde in der Praxis unter „Gesetz“ eine Regel verstan-
den , durch die ein Staat seinen Bürgerinnen und Bürgern ein bestimmtes Verhalten vor-
schreibt und durch Sanktionen auf diese Zwang ausübt , insofern diese Vorschriften oft
den natürlichen Wünschen widersprechen , so bedeute in der Naturwissenschaft „Gesetz“
etwas ganz anderes. Das Naturgesetz schreibe nicht vor , wie die Naturvorgänge sich ver-
halten sollen , sondern es sei eine Formel , die beschreibt , wie sich etwas tatsächlich verhält.
Die klassische Philosophie übertrage nun , diese Unterscheidung ignorierend , das Merk-
mal des Zwangs auf die beschreibende Formel der Naturwissenschaft , obwohl es damit
nichts zu tun habe. Wird nun gesagt „der Wille gehorcht psychologischen Gesetzen“, so
wird das als ein Zwingen durch psychologische Gesetze aufgefasst. Psychologische Geset-
ze zwingen jedoch keine Wünsche auf , die man gar nicht haben möchte , sondern als Na-
turgesetze formulierten sie nur , welche Wünsche der Mensch unter bestimmten Umstän-
den tatsächlich hat. ( Schlick 1930 , 108 ) Der erste Fehler sei also , Naturgesetze mit Zwang
zu verbinden und dadurch psychologische Gesetze als ein Hindernis für eine Auffassung
von Moralität im Sinne persönlicher Verantwortung zu sehen. Nun kommt es zu einer
weiteren Verwechslung : „Allgemeingültigkeit“ wird im Sinne von „Notwendigkeit“ ( oder
„unentrinnbarem Zwang“ ) verwendet. Wenn man sagt , ein Naturgesetz gilt notwendig ,
dann will man damit jedoch keineswegs sagen , es wirke mit unentrinnbarem Zwang , son-
413 Über den Begriff moralischer Verantwortung , den darin vorausgesetzten moralischen Prinzipien und
den notwendigen Bedingungen dafür , dass es objektiv gerechtfertigt ist , jemandem im normativen
Sinne Verantwortung zuzurechnen , siehe jüngst Neumaier 2008.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441