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9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre
306 Mensch wird als völlig frei und verantwortlich ( zurechnungsfähig ) betrachtet , wenn kein
derartiger äußerer Zwang auf ihn ausgeübt wird. ( Schlick 1930 , 110 ) Damit übernimmt
Schlick eine Bestimmung von Handlungsfreiheit , wie sie sich bereits in der Nikomachi-
schen Ethik findet. Dort unterscheidet Aristoteles zwischen freiwilligem und erzwunge-
nem Tun. Frei ( hekousios ) ist danach eine Handlung , wenn sie nicht unter Zwang erfolgt.
Das Wesen der Verantwortlichkeit : Worin äußert sich in der Praxis , wenn einem Indi-
viduum die „Verantwortung“ für eine bestimmte Tat zugemessen wird ? Wozu geschieht
dies ? Es gehe darum herauszufinden , wer bestraft oder belohnt werden solle , weil es auf
die Setzung von Handlungsmotiven ankomme. Strafe sei ein Mittel , um Motive zu set-
zen. Täterinnen und Täter sollten von der Wiederholung der bestraften Tat abgehalten
werden ( Besserung ), andere sollten daran gehindert werden , eine ähnliche Tat zu bege-
hen ( Abschreckung ). Analog sei eine Belohnung ein Ansporn. ( Schlick 1930 , 111 f. ) Bei
der Frage nach der Verantwortung gehe es darum , den Täter / die Täterin einer Hand-
lung zu finden. Täterin oder Täter ist jene Person , an der die Motive hätten ansetzen müs-
sen , um die Tat sicher zu verhindern ( bzw. hervorzurufen ). Die Betrachtung weit ent-
fernter Ursachen ( der Urgroßeltern , der Staatsmänner , die ein soziales Milieu geschaffen
hätten etc. ) helfe dabei nichts. Die Frage nach der / dem Verantwortlichen sei die Frage
nach dem richtigen Angriffspunkt der Motive. Darin erschöpfe sich ihr Sinn vollkom-
men. ( Schlick 1930 , 112 )
Das Bewusstsein der Verantwortlichkeit : Eine wichtigere Frage als die , wann jemand als
verantwortlich erklärt wird , ist für Schlick , wann sich jemand selbst verantwortlich fühlt.
Worin besteht das Bewusstsein , der wahre Täter / die wahre Täterin zu sein ? Es sei das
Bewusstsein der Freiheit , und dies sei einfach das Wissen , aus eigenen Wünschen heraus
gehandelt zu haben. Eigene Wünsche seien solche , die aus der Gesetzmäßigkeit des ei-
genen Charakters in gegebener Situation entstehen und nicht durch eine äußere Gewalt
aufgedrängt werden. Diese Abwesenheit der äußeren Gewalt dokumentiere sich in dem
bekannten Gefühl , man hätte auch anders handeln können. Es sei kein Bewusstsein der
Ursachenlosigkeit , sondern der Freiheit , so handeln zu können , wie man selbst wünsche.
( Schlick 1930 , 113 f. )
Vereinbarkeit von Freiheit und Verantwortlichkeit mit Determinismus : Schlick vertritt ein-
deutig einen psychologischen Determinismus , wie er sich bei Hume , Locke , Mill oder
Herbart findet. Nach Schlick sind alle Handlungen durch Charakter und Motive eindeu-
tig bestimmt. Der Begriff der Verantwortung ruhe auf dem der Verursachung , d. h. der Ge-
setzlichkeit der Willensentschlüsse. Schlicks Analyse gemäß sagen wir , jemand sei für et-
was verantwortlich , wenn wir Motive sehen können. So kommt Schlick zu dem Schluss ,
ein nicht deterministisches Wollen würde jede Verantwortung sogar aufheben. ( Schlick
1930 , 115 f. )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441