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9.3 Schlicks moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode
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9.3.2.5 Ethik als normative und inhaltliche Ethik
Kommen wir nun zum achten und letzten Kapitel der
Schrift zurück. Schlick gibt sich nämlich keineswegs mit
einer Moralpsychologie , die moralisches Handeln erklärt ,
und den nötigen begrifflichen Vorarbeiten , die in Erfah-
rungen aus dem alltäglichen Leben ansetzen , zufrieden.
Das abschließende Kapitel trägt den Titel „Welche Wege
führen zum Wertvollen ?“. Es läuft letztlich darauf hin-
aus , neben einer hedonistischen Handlungstheorie zudem
einen individuellen Eudämonismus und eine Moral der
Güte anzupreisen. Zugegeben , viele Teile des Buches las-
sen sich in eine empirische Ethik im heutigen Verständ-
nis einordnen. Aber schon in manchen dieser Teile ist ein
Schwanken zwischen Beschreibung und Festsetzung fest-
zustellen. Bereits bei der Definition von „moralisch gut“
ist fraglich , ob es sich um die Wiedergabe eines tatsächlichen Wortverständnisses han-
delt oder vielmehr um eine Festsetzung vonseiten Schlicks.415
Eudämonismus als Lebensorientierung : Was folgt nun in diesem achten und letzten Kapi-
tel der Fragen der Ethik ? Nicht weniger als der Ratschlag : „Sei glücksbereit.“ ( Schlick 1930 ,
144 ) Dies ist zunächst eine Antwort auf die Frage : „Wie soll ich leben , um glücklich zu sein ?“
Eine konkretere Antwort wagt Schlick nicht zu geben und verbleibt im Allgemeinen. Zu
diesem Ratschlag ist anzumerken , dass Schlick von „Glück“ und nicht von „Lust“ spricht ,
obwohl er sich der Vagheit des Ausdrucks „Glück“ bewusst ist. Glückszustände sind nach
Schlick nun Zustände maximaler Lust , höchster Freude. Er glaubt aber wie Neurath nicht ,
Glückszustände ließen sich summieren oder man könne genau angeben , wie man glücklich
werde. Wer glücklich sein wolle , könne nur darauf achten , ob seine Triebbefriedigung nicht
seine Fähigkeit zu künftiger Lustbefriedigung einschränke. Lediglich auf die Glücksfähig-
keit könnten Menschen achten. Zum wertvollsten ( glücklichen ) Leben führe dasjenige Ver-
halten , „welches dem Handelnden die größten Freuden bereitet , zugleich aber seine Glücks-
fähigkeit am wenigsten beeinträchtigt“ ( Schlick 1930 , 135 f. ), zu welchem die Zerstreuungen
aus Vom Sinn wohl nicht zu zählen sind. Das Glück könne man nicht herbeilocken , son-
dern nur sein ganzes Leben darauf einstellen , dass man jederzeit bereit sei , es zu empfan-
gen , wenn es komme. ( Schlick 1930 , 144 ) „Sei glücksbereit“ wird als Orientierungsfaden für
ein glückliches Leben , als hypothetischer Imperativ für die individuelle Lebensorientierung
in der Suche nach dem eigenen Glück präsentiert. Dies war von vornherein die Hauptper-
spektive der Lebensweisheit , ohne dort jedoch einen normativen Vorschlag zu beinhalten.
Verhältnis von Sittlichkeit und eudämonistischer Lebensorientierung : Die eudämonistische
Lebensorientierung ist von der gesellschaftlichen Moral ( Sittlichkeit ), von der Schlick bis
415 Kraft sieht darin eine Festsetzung. ( Kraft 1963 , 10 )
Abb. 7 : Moritz Schlick um 1930
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441