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9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre
308 dahin gesprochen hat und der es im Kernbereich um altruistische Gesinnung und Ver-
haltensweisen geht , weil Gesellschaften glauben , damit ihre eigene Wohlfahrt am meis-
ten zu fördern , zu unterscheiden. Bei ihr setzt Schlick in den Fragen an. Wie verhält sich
nun laut Schlick die eudämonistische Lebensorientierung mit der gesellschaftlichen Mo-
ral ( Sittlichkeit )? Er sieht den Zusammenhang dahingehend , dass das moralische Han-
deln ein zweckmäßiges Mittel zur Erlangung eines glücklichen bzw. glücksfähigen Lebens
sei. Es seien gerade die sozialen , altruistischen Triebe , die ihren Trägerinnen und Trägern
am ehesten ein freudenreiches Leben sicherten , wovon Schlick schon in der Lebensweis-
heit ausging. ( Schlick 1930 , 136 ) Bei ihnen setzen sich Menschen Freudenzustände der an-
deren zum Ziel. Bei Erreichen des Ziels genießen sie selbst Erfolgslust. Lust aus sozia-
len Trieben gehöre zu den höheren Genüssen , weil sie eine positive Rückwirkung auf die
Glücksfähigkeit hätten :
Die sozialen Triebe bilden ein wahrhaft geniales Mittel zur Vervielfältigung der Lustgefüh-
le : denn wer in der Lust des Mitmenschen eine Quelle eigner Lust fühlt , der vermehrt ja da-
durch seine Freuden um die der andern , nimmt teil an ihrem Glücke , während der Egoist
sozusagen auf seine eigne Lust beschränkt ist. ( Schlick 1930 , 138 )416
Da aber das Leben darüber hinaus von äußeren Einflüssen abhänge , könne Tugend kein
freudenreiches Leben garantieren :
Den Zufällen ist der Tugendhafte wie der Schurke in gleichem Maße unterworfen , die Son-
ne scheint auf Gute und Böse ; und so besagt der Satz über das Verhältnis von Tugend und
Glück nur , daß der Gütige immer bessere Aussicht auf das freudenreichste Dasein habe als der
Egoist , daß jener sich höherer Glücksfähigkeit erfreue als dieser. ( Schlick 1930 , 141 )
Die Erfahrung bestätige , dass gütige Menschen im Durchschnitt glücklicher seien als
Egoistinnen und Egoisten.417 Es liegt nahe , dies als Klugheitsbegründung für die Moral
zu lesen , wobei hier die Moral als inhaltliche Forderung nach einem nicht-egoistischen
Handeln verstanden wird. Schlick bietet damit eine Antwort auf die Frage : „Warum soll-
te ich tun , was im Sinne unserer Moral geboten ist ?“
416 Der höchste soziale Trieb sei , wie in der Lebensweisheit , die Liebe , aus welcher die höchsten Lustge-
fühle resultierten. Schlick ist zudem äußerst skeptisch gegenüber Trieben , die nicht zwischen Indi-
viduum und Individuum wirken , wie etwa allgemeine Menschenliebe , Liebe zum eigenen Volk , aber
auch einem Trieb , der sich auf das „Glück der größten Zahl“ richtet. Diesen Trieb , den der Utilita-
rismus fordert , findet er ein Unding. ( Schlick 1930 , 139 f. )
417 Nicht zufällig sei das Lächeln sowohl der Ausdruck der Güte als auch der Freude. Darin liegt für
Schlick das deutlichste Zeichen für die Verflechtung von Glück und Tugend. Diese Tatsache des Lä-
chelns und die vorhin erwähnte Tatsache des Liebesglücks seien die zwei Fakten , wo sich die Ethik
auf festeste Erfahrungsdaten stützen könne. ( Schlick 1930 , 142 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441