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9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre
310 neuen Moraldefinition nun zum Moralprinzip. Gegenüber dem fehlgeschlagenen Versuch
des Utilitarismus , hier ein Entscheidungskriterium anzugeben , wäre in diesem Vorschlag ,
der ausschließlich die Glücksfähigkeiten betone , zudem die störende Relativität und Ver-
schwommenheit der Problemstellung so weit wie möglich aufgehoben. ( Schlick 1930 , 143 )
Weisheits- und ( neue ) Morallehre fallen nun zusammen , wobei die gesellschaftliche
Moral von der neuen des individuellen Eudämonismus als Weg zum Glück mit umfan-
gen wird. Die neue Moral fordert nur , was Menschen de facto am höchsten werten , wo-
bei sie dadurch streng genommen gar nicht mehr fordert. Sie ist keine Moral der Pflicht ,
sondern eine der Güte. Die gesellschaftliche Moral geht in der neuen inhaltlich auf und
verliert bei unveränderten Inhalten ihren Pflichtcharakter. Was vorher als Pflicht , d. h.
Forderung von außen , an das Individuum herangetragen wurde , wünscht es nun aus sich
heraus. Als Ausdruck eines gesellschaftlichen Wunsches trägt die gesellschaftliche Moral
zwar Forderungscharakter , doch müsse eine Moral keine des Gehorsams , der Pflicht und
Forderung sein. ( Schlick 1930 , 59 )420
Schlick scheint , wohl aufgrund seiner anthropologischen Annahmen , die er in Vom
Sinn lebhaft ausführte , von seiner Lösung , in der sich nun alle Spannungen harmonisch
in Wohlgefallen auflösen , so fasziniert zu sein , dass er problematische Punkte zwar er-
wähnt , aber nicht besonders betont. Das harmonische Aufgehen moralischer Forderun-
gen in individueller Glücksorientierung betrifft in ihrer direkten Wirkung nur die bereits
in ausreichendem Maße altruistischen Menschen. Schlick selbst merkt an , dass für jene ,
die altruistische und sogenannte „höhere Triebe“ ausreichend entwickelt haben , die For-
derungen gesellschaftlicher Moral nicht mehr mit Entsagung verbunden seien. Sie tun
„das Gute“ freiwillig , von selbst. Die höchste Stufe der Moral sei deshalb die kampflo-
se der „Unschuld“. Nur in den niederen Stufen bräuchte es starke Unlustgefühle zur Mo-
tivierung des wertvollen Verhaltens , den Zwang der Pflicht und des Gewissens. ( Schlick
1930 , 147 ) Für jene , die das Unschuldsstadium – Utitz würde es wohl das Engelstadium
nennen – noch nicht erreicht haben , können die Orientierung an der eigenen Glücksfä-
higkeit und die Forderung nach altruistischem Verhalten nach wie vor auseinander fal-
len. Obschon diese , wenn Schlick Recht hätte , zur Erhöhung ihrer eigenen Glücksfähig-
keit guten Grund hätten , sich diesem Ideal anzunähern. Schlick macht es sich dennoch
zu einfach , indem er gerade dort , wo die spannenden Fragen im Verhältnis von individu-
eller Glücksorientierung und gesellschaftlicher Moral liegen , die Spannung auflöst , die
individuelle Glücksorientierung als neue Moral vorschlägt und die gesellschaftliche Mo-
ral zu ihrem Mittel erklärt. Dies ist jedoch der Dreh- und Angelpunkt seiner Moral der
Güte , an die sich Schlick zum Abschluss lobend wendet :
Güte , du lieber , großer Name , die du nichts Strenges , was liebeleere Achtung heischt , in dir
fassest , sondern Gefolgschaft erbittest , die du nichts drohest und kein Gesetz aufzustellen
420 Schlick ist hier stark von Guyaus Sittlichkeit ohne „Pflicht“ ( Guyau 1884 ) beeinflusst.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441