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9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre
314 Wie äußert sich Schlick in den Fragen zu diesem Problemkreis ? Beschränken wir uns
zunächst auf die inhaltliche Komponente und betrachten als Erstes das allgemeine Wert-
prädikat „wertvoll“ bzw. „gut“. Schlick behauptet , das Prädikat „gut“ habe die gleiche Exten-
sion wie das Prädikat „lustbringend“. Der Satz „x ist lustbringend“ beschreibt einen Sach-
verhalt , behauptet sein Bestehen und ist entweder wahr oder falsch. Da „lustbringend“ mit
„wertvoll“ extensional gleich sei , beschreibe ebenso der Satz „x ist wertvoll“ einen Sachver-
halt und behauptet sein Bestehen , womit er gleichfalls entweder wahr oder falsch sei und
eine kognitive Funktion habe. Schlick vertritt eine Korrespondenztheorie der Wahrheit.424
Ob durch weitere Bedeutungskomponenten noch weitere sprachliche Funktionen erfüllt
werden können , ist für Schlick in diesem Zusammenhang irrelevant. Erkenntnistheore-
tisch von Interesse ist an der Wertung das Lustgefühl , da über dieses die Überprüfung der
Wahrheit oder Falschheit der Behauptung läuft. Wertsätze sind deshalb für Schlick verifi-
zier- bzw. falsifizierbar. Die Verifikation eines Wertsatzes ist für Schlick im Auftreten ei-
nes bestimmten Erlebnisses , nämlich der Lust , zu sehen. Sie ist , so Schlick , unmittelba-
res Anzeichen des Wertes. Etwas ist wertvoll , insofern es mit Lust wahrgenommen oder
vorgestellt werde. ( Schlick 1930 , 77 ) Deshalb sei es ein objektiver Tatbestand , ob etwas für
ein Subjekt einen Wert oder Unwert hat. ( Schlick 1930 , 88 ) Wertsätze sind in diesem Sin-
ne hinsichtlich der inhaltlichen Komponente intersubjektiv verbindlich wahr oder falsch.
Was heißt dies nun für den Spezialfall „moralisch gut“ ? Nehmen wir die Definition ge-
sellschaftlicher Moral , die Schlick in den Fragen vorlegt , so lässt sich der Satz „x ist ( ge-
sellschaftlich ) moralisch gut“ übersetzen in den Satz „x wird von der Gesellschaft gebilligt ,
weil sie glaubt , dass es ihre eigene Wohlfahrt am meisten fördere“. Wie sich moralische
Wertsätze , in denen die Gesellschaft wertet , mit dem Erleben von Lust , das ja nur ein
je individuelles sein kann , verbindet , lässt Schlick zwar unbeantwortet , aber offenkundig
schreibt er Wertsätzen , einschließlich moralischen Wertsätzen , eine kognitive Funktion
zu. In dieser Funktion können sie wahr oder falsch sein. Eben solches gilt für Schlicks
Definition individueller Moral , in der „x ist moralisch gut“ äquivalent ist mit „x ist für die
Glücksfähigkeit eines Individuums förderlich“. Aus erkenntnistheoretischer Sicht geht es
darum , nach Wahrheitskriterien für moralische Wertsätze zu suchen , anhand deren diese
Sätze verifizier- bzw. falsifizierbar sind. Schlick glaubt dies berechtigterweise mit seinen
extensionalen Definitionen und logischen Äquivalenzen aufgedeckt zu haben. In der On-
tologie der Moral vertritt Schlick als Hedonist einen Realismus in einer naturalistischen
Variante : Es gibt moralische Tatsachen , aber diese seien ganz normale empirische Tatsa-
chen. Es handelt sich nicht um ontologisch besondere Tatsachen. Entsprechend nimmt er
für die Erkenntnistheorie der Moral an , dass sich diese wie andere empirische Tatsachen
ebenfalls erkennen ließen , und zwar wie diese und keineswegs durch Intuition. Wobei eine
hedonistische Werttheorie vorausgesetzt wird und keineswegs die moralische Richtigkeit
dieser Theorie aus empirischen Tatsachen alleine ableitbar wäre.
424 Die Kohärenztheorie war ihm zu rationalistisch. ( Friedl / Rutte 2008e , 646 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441