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9.3 Schlicks moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode
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ben wirkt , denn die menschliche Rede hat schliesslich nicht blos [ sic ! ] die Kraft , Wissen und
Erkenntnis zu vermitteln , sondern sie vermag wohl auch im Hörer Anschauungen , Gefühle
und Stimmungen zu erzeugen , die selbst zu unmittelbaren Quellen von Tätigkeiten werden ,
und deren Erweckung daher selber eine wirksame Art des Handelns ist. ( Schlick [ Ethik des
modernen Lebens ], Nachlass Schlick , Inv.-Nr. 10 / A. 18 , 4 f. )
Schlick wandte sich also spätestens zu dieser Zeit der Angewandten Ethik zu , wenngleich
diese in Fragen noch keine Rolle spielen wird. Die Arbeiten an Natur und Kultur begann er
schließlich im Sommer 1932 , wie einem Brief an Carnap vom 24. September 1932 zu ent-
nehmen ist ( Iven 2006b , 7 , Fn. 27 ).
Schlick sah zu dieser Zeit die moralischen und ethischen Fragen eng mit den Pro-
blemen der Geschichts- und Kulturphilosophie verbunden , die in den letzten Lebens-
jahren immer mehr in den Mittelpunkt seiner Arbeit traten. Im Vorlesungsmanuskript
„Ethik und Kulturphilosophie“ ( Nachlass Schlick , Inv.-Nr. 10 / A. 22 ) bestimmt er die Mo-
ral als „Regeln des Handelns in Kulturgemeinschaft“ ( 4 ). Eingangs gibt er dort zu beden-
ken , „Ethik und Kulturphilosophie“ sei kein typischer Titel , da eine Trennung der beiden
modern sei. Den modernen Kulturphilosophinnen und Philosophen437 seien drei Haltun-
gen gemein : ( 1 ) Moral bleibe abseits. ( 2 ) Moral sei ein fester Grund , der sich von selbst
verstehe , und ( 3 ) Moral sei sekundär und etwas Altmodisches für alte Fräulein , etwas , das
Kulturphilosophinnen und Philosophen nicht ernst nehmen müssten. ( Schlick [ Ethik und
Kulturphilosophie ], Nachlass Schlick , Inv.-Nr. 10 / A. 22 , 1 ) Schlick ringt hier offensicht-
lich darum , als Ethiker ernst genommen zu werden. Die wesentlichen Inhalte von Natur
und Kultur sind zugleich Inhalt dieser Vorlesung.
Welche sind diese wesentlichen Inhalte ? Natur und Kultur ist ein kritisches Werk , in
dem auf der Basis eines von Schlick als vernünftig erachteten Wertmaßstabes moralische
Werturteile über damaliges Kulturgeschehen ( „Lage der Kultur“ ) gefällt werden. Es geht
darin um politi sche , Rechts- , Wirtschafts- und Technikethik. Den Wertmaßstab bildet
Schlicks Eudämonismus , und vieles ähnelt seinen Ausführungen aus der Frühschrift Le-
bensweisheit. Schlick kehrt unter anderen Bedingungen zu seinen Wurzeln zurück.
Der Wertmaßstab : Der Wertmaßstab wird unvermittelt , aber entschieden eingeführt :
Es ist zwar ein trivialer und flacher Satz , daß Freude und Glück der Menschen den einzigen
Wertmaßstab der Kultur
– und nicht nur der Kultur
– liefern , aber das ist kein Einwand gegen
seine Wahrheit und enthebt uns nicht der Verpflichtung , ihn auszusprechen. ( Schlick 1952 , 15 )438
437 Sofern Schlick hier Philosophinnen einschließt.
438 Später wehrt er sich gegen den Vorwurf der Trivialität mit den Worten : „Sind das genugsam bekann-
te Trivialitäten ? Nun , mich stört es nicht , wenn geistreiche Leute Anstoß nehmen an dem , was ich
sage. Die Mathematik lehrt , daß man die nützlichsten Wahrheiten versäumt , wenn man an Triviali-
täten vorübergeht.“ ( Schlick 1952 , 85 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441