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9.3 Schlicks moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode
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Im nachgelassenen Buchmanuskript ausgearbeitet und in Natur und Kultur in Überar-
beitung veröffentlicht sind nur die Teile über die Daseinsnot , wobei bereits hier ein letztes
Kapitel über die Kunst gänzlich aus dem Vorlesungsmanuskript „Ethik und Kulturphilo-
sophie“ übernommen wurde. In Zusammenhang mit der Daseinsnot werden in Natur und
Kultur die Institution von Staat , Wirtschaft , Technik und Kunst abgehandelt.
Krieg , Wehrpflicht , Staat : Diesen Themenbereichen sind die bei weitem umfangreichs-
ten Ausführungen des Werkes gewidmet. Aufgabe des Staates ist es nach Schlick , das Le-
ben zu schützen und den Frieden zu sichern :
[ … ] der höchste Zweck der Politik ist der Friede. ( Schlick 1952 , 99 )
Schlick wendet sich deshalb gegen eine allgemeine Wehrpflicht und hält angesichts des
Maschinenkrieges eine Lobpreisung des Krieges für ein Verbrechen. ( Schlick 1952 , 51–66 )
Weiters hält er eine Staatenmoral nach dem Muster der Individualmoral für wünschens-
wert und verteidigt Nietzsche gegen jene , die Nietzsche in ihrem Kampf gegen Güte ,
Liebe und Humanität auf ihrer Seite wähnen. ( Schlick 1952 , 77 ) Der moralische Maßstab
schließe einen rassisch-nationalen aus :
Nationalismus und Rassismus sind also mit jeder Individualmoral unvereinbar. ( Schlick
1952 , 88 )
Der Ausdehnung eines Volkes hält Schlick die freiwillige Beschränkung der Bevölkerung
im Sinne der Selbstbeherrschung
– neben der Güte „die Grundlage aller Moral“
– entge-
gen , „denn die Erdoberfläche ist endlich“ ( Schlick 1952 , 95 f. ).
Damit der Zweck des Zusammenschlusses zu einem Staat Frieden sein könne , dürfe
eine Staatenbildung weder nach den Kriterien Rasse , Religion , politische Über zeugung ,
Interessen oder Beschäftigung erfolgen , sondern nur der Charakter der Menschen zählen :
Die Menschen von Charakter , die Gütigen und Friedfertigen , gehören „von Natur“ zusam-
men , sie bilden die unsichtbare Civitas dei , die Gemeinschaft , welche überstaatlich , überna-
tional , überkonfessionell und überparteilich ist. ( Schlick 1952 , 99 f. )
Jedenfalls müsse ein Staat kein Territorialstaat sein. Es könnten sich ebenso in einem Ter-
ritorium mehrere Gemeinschaften mit verschiedenen Gesetzen , Sitten , mit eigener Ju-
dikative und Exekutive bilden. Ergänzt durch ein Minimum von überstaatlichen Vorga-
ben , die das Verhältnis der Mitglieder verschiedener Gemeinschaften regeln , könnte eine
solche Ordnung durchaus stabil sein. Gerade eine räumliche Trennung führe zu Konflik-
ten. Wobei Schlick jenen , die dadurch Eintönigkeit befürchten , antwortet , gleichförmige
räumliche Verteilung bei möglichst großen individuellen Unterschieden bedeute gerade
nicht Eintönigkeit , sondern maximale Buntheit. ( Schlick 1952 , 100–105 ) Insgesamt träumt
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441