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9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre
328 Alle diese möglichen Beweggründe rechtfertigen selbstverständlich keinen Mord , doch
würden sie ihn ebenso wenig
– wie von Schlick-Sympathisantinnen und -Sympathisan-
ten sowie Schlick-Gegnerinnen und -Gegnern gleichermaßen unternommen – zum poli-
tischen Ereignis stilisieren.
In diesem Kapitel ging es mir darum , das verzerrte Bild von Schlicks Ethik zurechtzu-
rücken. Dies selbst auf die Gefahr hin , Schlick könne als Philosoph daran Schaden neh-
men , weil er
– sogar entgegen seinen eigenen Ansprüchen
– seine Theorien nicht vor Un-
klarheiten und Inkonsistenzen bewahrte. Schlick ist in mancherlei Hinsicht nicht deshalb
schwer zu verstehen , weil seine Inhalte so schwierig wären , sondern weil sein ethisches
Werk eben derartige Unklarheiten und Inkonsistenzen aufweist.
Wir haben es bei Schlick mit mindestens zwei Auffassungen von Moral zu tun. Die ers-
te ist Moral im Sinne der Sittlichkeit , die er als ein gesellschaftliches Phänomen versteht.
Sittlichkeit ist von Einzelnen unabhängig , da nicht der Einzelne alleinige Verfügungsge-
walt über deren Inhalte hat. Sie ist jedoch von allen Individuen abhängig , insofern die-
se in einer gesellschaftlichen Moral zusammenwirken. Die zweite ist Moral im Sinne ei-
ner individuellen Lebensorientierung. Beide versteht er eudämonistisch , wobei Moral als
Sittlichkeit die Moral als individuelle Lebensorientierung aller Wahrscheinlichkeit nach
unterstützt und somit aus individueller Sicht instrumentell gerechtfertigt wird. Der Sinn
und Zweck beider Moralen und damit gleichfalls ihre Begründung ist diesseitsbezogen.
Um eine humanistische Moral handelt es sich bei der gesellschaftlichen Moral , weil das
Glück aller Menschen zu berücksichtigen ist , mit denen Handelnde in Berührung kom-
men. Die Rolle der Wissenschaft als eines der wertvollsten Instrumente zur Lebensver-
besserung hebt Schlick nirgends ausdrücklich hervor , würde diese wohl aber auch nicht
bestreiten.443 Diese Einschränkungen berücksichtigt , ist es gerechtfertigt , im Falle von
Schlicks Ethik ebenfalls von einem wissenschaftlichen Humanismus zu sprechen.
Schlicks Ethikauffassung ist zunächst dadurch bestimmt , dass sie die Theorie dem Leben
nachordnet. Ausgangspunkt sind die Moralen als lebenspraktische Phänomene. Diese stellt
Schlick nicht infrage. Zu denken geben ihm vielmehr inadäquate Theorien , die verschiedene
Elemente dieser Moralen verabsolutiert hätten. Schlick braucht deshalb keineswegs im Sin-
ne eines Eklektizismus auszuwählen , sondern er fügt wieder zusammen , was einzelne Theori-
en zertrennten. Inhaltlich hat sich zwischen der Lebensweisheit bis zu Natur und Kultur wenig
geändert , wenngleich sich die Akzente verschieben und Ausführungen im Detail verändern.
Ausgangs- und Bezugspunkt ist in Schlicks Ethik die Lebenspraxis.444 Auch in Na-
tur und Kultur betont er noch einmal , die Ethik müsse im Einklang mit dem moralischen
443 Auf strukturelle Änderungen vertraut Schlick jedoch nicht : „Verbesserung der Zustände kann nicht
geschehen durch Änderung der Einrichtungen. [ … ] Nur Besserung der Natur des Menschen schafft
wahrhaft Wandel , denn man muss nicht die Symptome kurieren , sondern den Grund des Übels.“
( Schlick 1962 , 43 )
444 „Alle Fragen , die der Mensch überhaupt stellt , philosophische und wissenschaftliche , haben ihren
Ursprung im täglichen Leben.“ ( Schlick 1986 , 22 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441