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10.1 Einleitung
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Victor Kraft attended the meetings of the Circle regularly and often took notes though he
rarely spoke in the discussions. ( Menger 1994 , 64 )
Carnap hingegen behielt Kraft als einen in den Diskussionen besonders Aktiven im Ge-
dächtnis. ( Carnap 1963a [ 1993 , 33 ])
Kraft nahm nicht nur an den Treffen des Schlick-Kreises teil , sondern ebenso an jenen
des Gomperz-Kreises , zu dem auch Karl Popper zählte.450 Mit ihm blieb Kraft zeitlebens
in Kontakt. In der 1979 unter dem Titel Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie er-
schienenen Urfassung der Logik der Forschung gesteht Popper :
Kraft nimmt
– soweit ich es beurteilen kann
– geradezu die Grundgedanken des von mir ver-
tretenen deduktivistisch-empiristischen Standpunktes vorweg. ( Popper 1979 , 182 )
In den Nachkriegsjahren leitete Kraft schließlich einen eigenen Kreis , der als Kraft-Kreis
bekannt wurde.451 Teilnehmende waren u. a. Paul Feyerabend und Ernst Topitsch. Eliz-
abeth Anscombe , Georg Henrik von Wright und sogar Wittgenstein kamen zu Besuch.
Feyerabend ist wohl der weltweit bekannteste von Krafts Dissertanten.452
Da Kraft nicht auf die Unterstützung einer wohlhabenden Familie
– er entstammt einer
Lehrerfamilie – zählen konnte , musste er neben seiner Tätigkeit als Philosoph zur Exis-
tenzsicherung als Bibliothekar arbeiten. Daran änderte auch der 1924 verliehene Titel ei-
nes außerordentlichen Professors für Theoretische Philosophie nichts , mit dem weder ein
Einkommen noch Mitsprache an der Universität verbunden waren. Daneben lehrte Kraft
als Privatdozent an der Universität und im Rahmen der Volksbildung , wo er bis 1935 re-
gelmäßig unterrichtete und Vorlesungen hielt.453 Kraft war überdies Mitglied der Ethischen
Gemeinde. Lange Zeit galt Krafts Hauptinteresse der Theoretischen Philosophie.454 Spä-
450 Kraft bemühte sich auch um eine Rückkehr Poppers nach Wien. Dieser lehnte jedoch den ihm an-
gebotenen ehemaligen Lehrstuhl Schlicks ab und blieb in London. ( Vollbrecht 2004 , 10 ) Kraft sah
sein Verhältnis zu Popper folgendermaßen : „Wir sind beide insoferne Empiristen , als für uns Erfah-
rung in den Realwissenschaften ein unersetzlicher Begründungsfaktor ist , jedoch wir sind insoferne
keine ausschließlichen Empiristen , also keine Positivisten oder Sensualisten , weil wir nicht glauben ,
daß man die Wissenschaften allein mit der sogenannten Erfahrung aufbauen kann , weil eben in der
Erfahrung selber schon konstruktive Elemente stecken.“ ( Kraft 1973a , 10 ) Zu Poppers Sozialphilo-
sophie siehe Siegetsleitner 2002.
451 Zum Kraft-Kreis siehe u. a. Feyerabend ( 1980 , 217 ff. ) und Stadler 2010b.
452 Auch Ingeborg Bachmann promovierte bei Kraft.
453 Von 1906 bis 1917/18 gehörte Kraft dem Vorstand der Wiener Volkshochschulen an. 1913 hielt er an-
lässlich von Jodls Tod einen Vortrag zu dessen Erinnerung. Kraft lehrte unter anderem über Krieg
und Weltanschauung , chinesische Philosophie und Grundfragen moderner Weltanschauung. Im WS
1925 /26 trug er über „Sinn des Lebens und Weltanschauung“ vor. ( Stadler 1997a , 722 ff. )
454 Auf Krafts theoretische Philosophie werde ich nur soweit eingehen , als sie für seine Ethik von Interes-
se ist. Auffallend ist , dass Kraft sich in der Erkenntnistheorie den idealisierenden Tendenzen Windel-
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441