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10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung
334 ter trat jedoch die Praktische Philosophie hinzu , die in der Folge einen Schwerpunkt sei-
ner wissenschaftlichen Arbeit bildete. Die meisten seiner Schriften konnte Kraft im Üb-
rigen erst nach seiner Emeritierung verfassen. Zum Teil erschienen sie sogar nach seinem
80. Geburtstag. Die legitimen Gebiete der Philosophie waren auch in seinen Augen be-
schränkt , doch nicht einzig auf Wissenschaftstheorie : Der Philosophie blieben Erkennt-
nislehre und Wertlehre. ( Kraft 1973a , 23 )
Neben Béla ( von ) Juhos , der 1948 bei Kraft habilitierte , war Kraft das einzige Mitglied
des Kreises , das nicht emigrierte. 1938 wurde ihm jedoch die venia legendi entzogen , und
er verlor wegen der jüdischen Abstammung seiner Frau seine Stelle als Bibliothekar. Nach
dem Krieg wurde er insofern rehabilitiert , als er 1945 zunächst wieder in den Bibliotheks-
dienst eingestellt und 1947 auch zum wirklichen außerordentlichen Professor für Philoso-
phie ernannt wurde. Von 1950 bis zu seiner Emeritierung 1952 nahm er schließlich sogar
die Stelle eines Ordinarius am Philosophischen Institut der Universität Wien ein. ( Vgl.
dazu Frey in seinem Nachruf 1975 u. Stadler 1997a , 717 f. )
Dass Kraft nicht immer selbstverständlich zum Kreis gerechnet wird und sogar von
Neurath in einer Ergänzung in einem Band der Erkenntnis ausdrücklich nur zu den Sym-
pathisierenden gezählt wird ( Kraft 1973a , 13 ), liegt an seinen Positionen , die von jenen
Carnaps und Neuraths bei aller Gemeinsamkeit nicht nur in der Wert- und Moralphilo-
sophie abweichen. So stand Kraft u. a. dem methodischen Phänomenalismus , dem Physi-
kalismus und der Einheitswissenschaft kritisch gegenüber. ( Rutte 1973 , 7 ) Gerade in der
Ethik kritisiert er zudem Schlicks hedonistischen Zugang.
Ich sehe Kraft mit Karl Acham als einen undogmatischen Anhänger des Logischen
Empirismus , der die Selbstkritik der im Kreis vehement vertretenen Positionen ein-
schließt. ( Acham 1974 , 29 ) Für Rutte ist Kraft im Wiener Kreis ein Philosoph der Mitte :
Seine Philosophie steht in der Mitte und bietet einen Standort dar , von dem aus man ver-
schiedene Tendenzen und Wege dieser wissenschaftlichen Philosophie ordnend überschau-
en kann. ( Rutte 1973 , 8 )
Was im Speziellen die Ethik anbelangt , steht Kraft jedoch , wie wir sehen werden , in der
Bandbreite der im Wiener Kreis vertretenen Standpunkte an einem der Pole.
bands , einen Normalmenschen als Erkenntnissubjekt anzunehmen , in den Weg stellt. ( Radler 2006 ,
128 ) In seiner Ethik tendiert Kraft schließlich sehr wohl dazu , einen idealisierten Normalmenschen
anzunehmen , um über den Weg gemeinsamer Interessen die objektive Gültigkeit von Mitteln aufzu-
weisen. Ebenso wenig kann ich an dieser Stelle den Bezügen zu Feyerabend , Popper und Hans Al-
bert näher nachgehen. Siehe dazu u. a. Radler 2006 und Vollbrecht 2004. In aller Kürze sei lediglich
erwähnt , dass Albert 1972 seine Aufsatzsammlung Konstruktion und Kritik Kraft widmete. In Alberts
Aufsatz „Wissenschaft und Politik“ ( Albert 1960 ), seinem Beitrag zu Krafts Festschrift , hatte er sich
schon 1960 zur Wertphilosophie Krafts bekannt. Auf diese stützt er sich auch ausdrücklich noch im
Jahre 2000 in seiner logischen Analyse von Werturteilen in Kritischer Rationalismus ( Albert 2000 , 45 ).
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441