Seite - 335 - in Ethik und Moral im Wiener Kreis - Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Bild der Seite - 335 -
Text der Seite - 335 -
10.1 Einleitung
335
Die gemeinsame Grundrichtung des Wiener Kreises , der sich Kraft eben sehr wohl zu-
gehörig fühlte , formulierte er in seiner philosophiehistorischen Arbeit Der Wiener Kreis.
Der Ursprung des Neopositivismus. Ein Kapitel der jüngsten Philosophiegeschichte :
Die strengen Anforderungen wissenschaftlichen Denkens sollen auch für die Philosophie
gelten. Eindeutige Klarheit und logische Strenge und zureichende Begründung sind auch in
ihr unerläßlich , wie in den übrigen Wissenschaften. Dogmatische Behauptungen und un-
kontrollierbare Spekulationen , wie sie sich auch heute noch in der Philosophie breit machen ,
darf es in ihr nicht geben. ( Kraft 1950b [ 1968 , 11 ])
Die erste Auflage dieser historischen Darstellung erschien 1950 , die zweite mit einem
neuen Anhang über die Weiterentwicklung des Wiener Kreises 1968. Wenn auch nicht
unumstritten , war diese Darstellung lange Zeit „maßgebend und unüberholt geblieben“
( Topitsch 1960b , V ), und mit ihr wurde Kraft einer „der maßgeblichen Biographen der
modernen neopositivistischen Schule“ ( Rutte 1973 , 7 ). Mit dieser Darstellung , die bereits
1953 auf Englisch erschien , hat Kraft – sozusagen als Ironie der Geschichte des Wiener
Kreises – selbst dazu beigetragen , dass der Wertphilosophie und Ethik im historischen
Bild des Wiener Kreises so wenig Platz eingeräumt wird. Wertfragen nehmen in Der Wie-
ner Kreis wenig Raum ein. Auf lediglich fünf Seiten werden kurz Carnaps Position im
Aufsatz „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“, Schlicks
Fragen der Ethik und Krafts eigene Wertlehre abgehandelt , mit der er ab Ende der 1930er-
Jahre an die Öffentlichkeit trat. Seine eigenen Versuche zur Moralbegründung ( von denen
zu dieser Zeit bereits mehrere Versionen vorliegen werden ) erwähnt er mit keinem Wort.
Auch in der zweiten Auflage von 1968 nimmt er zum Themenbereich Werte keinerlei Er-
gänzungen vor.455 Über die Gründe hierfür kann lediglich gemutmaßt werden.
Ich werde mich hier vor allem mit Krafts wert- und moralphilosophischem Frühwerk
befassen , im Speziellen mit der Schrift Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre ,
die 1937 erschien , und dem Zeitschriften-Artikel „Über Moralbegründung“, den er 1940
in Theoria veröffentlichte.456 Bei den Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre werde ich
455 Schlicks Mörder Johann Nelböck verklagte Kraft wegen Rufschädigung , weil Kraft ihn in dieser
Schrift als verfolgungswahnhaften Psychopathen bezeichnet hatte : „Professor Schlick wurde von ei-
nem früheren Schüler , einem verfolgungswahnhaften Psychopathen , in der Universität erschossen.“
( Kraft 1950b [ 1968 , 6 ]) Die Sache endete schließlich mit einem Vergleich , weil sich Kraft nach Be-
kunden seiner Tochter von Nelböck bedroht fühlte. ( Stadler 2003 , 18 )
456 Zuvor veröffentlichte Kraft zur Ethik lediglich im Jahre 1928 den kurzen Aufsatz „Ethik als Wissen-
schaft“. Er sieht darin die Möglichkeit einer empirischen und einer systematischen Ethik als einer
rein logischen Beziehungswissenschaft. ( Kraft 1928 , 38 ) Universitäre Lehrveranstaltungen zur Prak-
tischen Philosophie sind bis zur Aberkennung der Lehrbefugnis keine bekannt. 1937 widmete er je-
doch eine Lehrveranstaltung den Erkenntnisproblemen der Geisteswissenschaften. Kraft unterstützt
die Wertfreiheit in den Sozialwissenschaften , sofern sie politische Ideologie ausschalte. Wissenschaft
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441