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10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung
338 Die Wertlehre wurde doch noch als elfter und letzter Band der Reihe bei Springer ange-
nommen. Und wie das Zitat deutlich macht , ging es darum , ob Wert- und Moralphiloso-
phie , wie Kraft sie betrieb , als anständige Gebiete einer Philosophie ( im Sinne Neuraths
und Carnaps ) gelten konnten.459
10.2.1.1 Begriffsanalyse : Moralische Wertbegriffe als spezialisierte Wertbegriffe
Als Erstes wende ich mich den Antworten Krafts auf folgende für seine Moralauffassung
grundlegenden Fragen zu : Weisen alle Wertbegriffe gemeinsame Merkmale auf ? Was un-
terscheidet moralische Wertbegriffe von anderen Wertbe griffen ? Worin besteht das spe-
zifisch Moralische ?
Wertsubjektivismus : Was den ontologischen Status von Werten betrifft , distanziert sich
Kraft von pragmatistischen , wertpsychologischen460 und wertabsolutistischen Theorien ,
wovon hier vor allem Letztere interessieren. Diese lehnte er sowohl in der phänomeno-
logischen Version – insbesondere jene , die Max Scheler vertrat – als auch in der Version
der südwestdeutschen Schule ab , wie sie von Rickert ausgearbeitet wurde. Bei allen Un-
terschieden ,461 so ist Kraft zuzustimmen , ist diesen beiden Schulen gemein , Werte als Ge-
genstände eigener Art aufzufassen , die sich von Gegenständen der Wirklichkeit wesent-
lich unterscheiden und deren Sein oder Gelten von subjektiven Wertungen unabhängig ist.
( Kraft 1937 , 6 f. )462 Diese Sicht der ontologischen Unabhängigkeit von subjektiven Wer-
tungen und Wert hält Kraft für falsch.463 Werte werden nach Kraft aus konkreten Wertun-
gen durch Abstraktion gewonnen. Die letzte Grundlage bilden die Wertungen , nicht die
Werte. ( Kraft 1937 , 9 ) Werte bleiben ontologisch immer an subjektive Wertungen rück-
gebunden. Da Wertungen ( Werterlebnisse ) immer die Wertungen von Subjekten seien ,
459 Eine englische von Henk Mulder herausgegebene und von Topitsch eingeführte Übersetzung er-
schien erst 1981 als Band 15 in der Vienna Circle Collection. Eine Übersetzung der späteren Arbeit Die
Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ins Englische , die Kraft ( 1973a , 21 ) wünschte , damit dieses
Werk auch in den USA Beachtung fände , wurde bis jetzt nicht vorgenommen.
460 Insbesondere die österreichische Wertphilosophie , beginnend mit Franz Brentano , war zunächst psy-
chologisch ausgerichtet. Schon sein Schüler Alexius Meinong ging in seinem Spätwerk zu einer ob-
jektivistischen Auffassung über. Kraft nimmt in Ausführungen zur Wertpsychologie übrigens im-
mer wieder auf Arbeiten Störrings Bezug , bei dem Schlick studiert hatte ( vgl. Iven 2008a , 167 , und
die Ausführungen im Schlick-Kapitel der vorliegenden Untersuchung ).
461 Bei Scheler und Hartmann „sind“ Werte , bei Windelband und Rickert „gelten“ sie.
462 Werte lösen diesen Schulen gemäß zwar Wertgefühle aus , bestehen von solchen aber unabhängig.
Nach Scheler werden diese durch Fühlen und Vorziehen a priori erkannt. Der absolute Wert habe da-
mit eine „erkenntnistheoretische Grundlage erhalten , die ihm bisher immer gefehlt hatte“. ( Kraft 1951 ,
3 f. ) Bei Scheler verbindet sich ein Wertrealismus absoluter Werte mit einer apriorischen Werterkennt-
nis : „Das ist ein Wert-Platonismus , ein Realismus absoluter Werte , der eine apriorische Werterkennt-
nis behauptet und mit dem sich ein emotionaler Intuitionismus verbindet.“ ( Kraft 1951 , 5 )
463 Kraft sieht dahinter vielmehr ein moralisches Motiv wirksam : „Er [ Scheler ] will die Unbedingtheit
der sittlichen Werte sichern , er will sie über alle Relativität erheben.“ ( Kraft 1951 , 7 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441