Seite - 339 - in Ethik und Moral im Wiener Kreis - Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
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10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode
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sei dem Wert auch die Beziehung zu einem wertenden Subjekt wesentlich. ( Kraft 1937 ,
10 ) Kraft vertritt einen Wertsubjektivismus , insofern Wertbegriffe nicht ohne den Begriff
wertender Subjekte definiert werden können.464
Wie Carnap sieht Kraft Werte in erkenntnistheoretischer Hinsicht aus Beziehungen
zwischen Gegenständen niederer Ordnung konstituiert :
Die Wertlehre kann darnach ihre Erkenntnisgrundlage nur in den empirischen Tatsachen der Gü-
ter [ ökonomischer , ästhetischer , moralischer usw. ; A. S. ] und Werterlebnisse finden. Denn nur in
diesen können die variablen Glieder gefunden werden , zwischen denen die invariablen Be-
ziehungen bestehen , welche die Werte darstellen. Die Untersuchung muß demnach als eine
erfahrungswissenschaftliche geführt werden , [ … ]. ( Kraft 1937 , 16 )
Zum großen Teil seien dies psychologische Untersuchungen , doch nicht nur. Vor allem
die Untersuchungen der Wertpsychologie , wie sie bis dahin durchgeführt worden waren ,
wiesen in Krafts Augen große Mängel auf. Experimente wurden voreilig und in zu ein-
facher Form unternommen. Höhere geistige Erscheinungen wie das Werten seien kom-
plexe Phänomene , deren wesentliche Faktoren geklärt sein müssten , bevor sie mit Expe-
rimenten nachgeprüft werden könnten. ( Kraft 1937 , 17 ff. )465
Dem Experiment muß deshalb bei komplizierteren Erscheinungen ein analysierendes Stu-
dium vorangehen. ( Kraft 1937 , 19 )466
Dies gelte auch für moralische Wertbegriffe ; neben solchen des Nutzens mit den Unterar-
ten der ökonomischen und ästhetischen. ( Kraft 1951 , 13 )467 Deshalb brauche es neben psy-
chologischen Untersuchungen eine Begriffsanalyse.
Bevor ich zu dieser Analyse übergehe , sei noch ausdrücklich erwähnt , dass Wertbegrif-
fe für Kraft keine sprachlichen Ausdrücke sind , sondern Wertbegriffe sprachlich durch
Wertprädikate ausgedrückt werden. ( Kraft 1951 , 11 ) Kraft unterscheidet zudem in üblicher
Weise Werte von Wertträgern :
Was wertvoll ist , hat Wert , ist aber kein Wert , sondern ein Wertträger , ein Gut. ( Kraft 1951 , 10 )
464 Hier folgt Kraft dem frühen Meinong vor 1912.
465 Auch hier geht Kraft mehrmals auf Störring ein , dessen Experimente nur deshalb Gefühlszustände
als Grundlage der Wertungen gezeigt hätten , weil dies den Probandinnen und Probanden schon in
der Instruktion nahegelegt worden sei. ( Kraft 1937 , 21 )
466 Kraft setzt deshalb in seiner psychologischen Untersuchung nicht auf Experimente , sondern auf die
Untersuchung von Wertungen im individuellen Bewusstsein. ( Kraft 1937 , 21 f. )
467 Der Ausdruck „Wert“ stammt ursprünglich aus der Nationalökonomie und wurde in den 1840er-Jah-
ren vom Philosophen und Pionier der medizinischen Psychologie Rudolf Hermann Lotze ( 1817–1871 )
in die Philosophie eingeführt. Lotze gilt deshalb als „Ahnherr“ der Axiologie.
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441