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10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung
346 10.2.1.3 Wertpsychologie : Quellen der ( individuell-subjektiven ) Auszeichnung
Krafts Annäherung an den Wertbereich erfolgte sicherlich wie bei Brentano und Mei-
nong über die Psychologie bzw. das Verständnis psychischer Vorgänge. Dies zeigt sich
insbesondere in seinen psychologischen Ausführungen zur Auszeichnungskomponente.
Wobei diese psychologischen Untersuchungen für ihn nicht für sich stehen , sondern ei-
nem erkenntnistheoretischen Zweck dienen , nämlich der Klarstellung des Sinngehaltes
der Wertbegriffe.
Die Auszeichnungskomponente ist für Kraft logisch gesehen ein Letztes , nicht wei-
ter Zerlegbares. ( Kraft 1951 , 28 ) Aufschlussreich können nach Kraft jedoch psycholo-
gisch-empirische Analysen für das Verständnis der Auszeichnung sein. Dies unternimmt
Kraft in einem wertpsychologischen Teil seiner Untersuchung mit dem Titel „Die Quel-
len der Auszeichnung“.480 Wenn Kraft schreibt , die Auszeichnungen könnten aus meh-
reren Quellen kommen , so behandelt er bei näherer Betrachtung fast ausschließlich die
Quellen individueller Auszeichnungen in Werthaltungen und kaum die Quellen überin-
dividueller Auszeichnung.
Überdies ist „Quelle“ bei Kraft in diesem Zusammenhang ein sehr vager Be griff. Als
Quelle gilt , worauf eine individuelle Auszeichnung „zurückgeführt werden kann“, wor-
auf sie „beruht“ oder wodurch eine Auszeichnung „herbeigeführt“ wird. Ob es hier nur
um Zusammenhänge des ( kausalen ) Erklärens geht oder bei manchen Quellen auch um
Rechtfertigungsbeziehungen , bleibt ungeklärt. Soll lediglich die psychische Entstehung
von Werthaltungen erklärt werden oder geht es auch um psychische Phänomene , auf die
verwiesen werden kann , wenn es um die Rechtfertigung der Forderung geht , die überin-
dividuelle Auszeichnungen in Werturteilen umfassen ?481 Die Grundfrage nach den Quel-
len lautet jedoch : Woher kommt es , dass jemand lobt oder tadelt , etwas die Stellungnahme
von Menschen bestimmt ? Da Krafts Ablehnung des Hedonismus und seine Moralbe-
gründung mit seinen „Quellen“ eng zusammenhängt , soll hier Krafts psychologischer Bei-
trag trotz der Unklarheiten knapp umrissen werden. Die von Kraft genannten Quellen der
Auszeichnung sind : Gefühle , Affekte , Bedürfnisse und Begehren , Gewohnheiten , über-
nommene oder abgeleitete Auszeichnungen.
Auch wenn mit einer bloßen Lust-Unlust-Betonung noch keine Wertung vorliegt , so
sieht Kraft die Gefühle von Lust und Unlust dennoch als eine besonders wichtige Quelle
der Auszeichnung , da sie unmittelbar eine Stellungnahme bestim men :
Sie [ Lust und Unlust ; A. S. ] haben vor den anderen [ Quellen ; A. S. ] das voraus , daß sie un-
mittelbar das Verhalten bestimmen , indem sie sofort eine bestimmte Stellungnahme zu dem ,
480 Kraft stützt sich in seinen psychologischen Ausführungen wiederholt auf Untersuchungen von Char-
lotte und Karl Bühler.
481 Der dänische Rechtstheoretiker Alf Ross sieht in Krafts „Quelle“ deskriptive und explikative Ge-
sichtspunkte vermischt. ( Ross 1955 , 119 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441