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10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode
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Ginge es nur um gefühls- ( oder auch strebens- )mäßige Ab- oder Zuwendung , würde
sehr wohl ein bloßer Affektlaut genügen , wie reine Emotivistinnen und Emotivisten es
auch für moralische Wertbegriffe angemessen sahen. Aber genau dies treffe bei Werturtei-
len nicht zu , wie Kraft am Beispiel des Wertbegriffs „schön“ explizit hervorhebt :
Und dieses sinnvolle Wort ist kein beliebiges , zufällig im Affekt hervorgestoßenes , sondern
steht in einem inneren , sachlichen Zusammenhang mit der Gefühlserregung und ihrem An-
laß. ( Kraft 1937 , 34 f. )
Es kommt neben der präskriptiven Komponente ( und gegebenenfalls einer emotionalen
Komponente , so gleichzeitig eine Stellungnahme ausgedrückt wird , was Kraft im Unkla-
ren lässt ) des Wertcharakters ein Sinngehalt , nämlich der Sachgehalt der Wertbegriffe ,
hinzu.486 ( Kraft 1937 , 35 ) In einem Werturteil werden den Kundigen auch die Beurteilungs-
kriterien mitgeteilt bzw. dass der / die Urteilende meint , im Falle des Wertobjekts werden
diese erfüllt. So sieht es Kraft auch für die moralischen Wertbegriffe.
Krafts weiter semantischer Kognitivismus : Wenn einer moralischen Gemeinschaft als mo-
ralisches Urteilskriterium gilt , dass eine Handlung einer allgemeinen Begehrensbefriedi-
gung ohne individuelle Ausnahmen dient , fordert das Urteil „Das ist eine moralisch gute
Handlung“ nicht nur zu einer entsprechenden Handlung auf , sondern teilt auch mit ,
dass diese Handlung der allgemeinen Begehrensbefriedigung ohne individuelle Ausnah-
me diene. Wir haben es bei Kraft in der Bedeutung moralischer Begriffe eindeutig mit ei-
ner Zwei-Komponenten-Theorie zu tun.
Vergleichen wir Krafts Position nicht nur mit dem reinen Expressivismus , der mora-
lischen Begriffen jegliche Sachkomponente abspricht , sondern auch mit der Zwei-Kom-
ponenten-Theorie von Charles Leslie Stevenson , wie er diese 1937 in „The Emotive Mean-
ing of Ethical Terms“ vorlegte , so zeigt sich Folgendes : Stevenson gesteht dort zu , dass in
Moralurteilen immer irgendein deskriptives Element vorhanden sei [ und zwar im mora-
lischen Prädikat ; A. S. ], fährt aber fort :
aber das ist keinesfalls alles. Die wesentliche Verwendung von Moralurteilen besteht nicht
darin , auf Tatsachen zu verweisen , sondern darin , jemanden zu beeinflussen. ( Stevenson 1937
[ 1974 , 121 ])
Abgesehen davon , dass Kraft die Sachkomponente nicht als unwesentlich abtun würde ,
zeigt sich folgende wesentliche Differenz in den Auffassungen : Was für Kraft im Unter-
schied zu Stevenson zum Sachgehalt dazu kommt , ist nicht die individuelle Absicht der
Einflussnahme , sondern der Wertcharakter , der überindividuell zu einer entsprechenden
486 „Die Differenzierung der Wertbegriffe ergibt sich dann dadurch , daß sich der Wertcharakter mit ei-
nem reicheren sachlichen Gehalt verknüpft.“ ( Kraft 1937 , 36 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441