Seite - 354 - in Ethik und Moral im Wiener Kreis - Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
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10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung
354 Nur bei der Richtigkeit des beurteilten Sachgehalts gehe es um Wahrheit. Dort indes
sehr wohl. Über spezifische Werturteile kann – über analytisch-logische Beziehungen
der Wertprädikate hinaus – rational diskutiert werden , insofern sie einen sachlichen Ge-
halt haben. Dies ist nach Kraft bei moralischen Werturteilen der Fall. Diese können re-
lativ zu einem Standard , der in der Sachkomponente zum Ausdruck gebracht wird , ge-
prüft werden. Erkenntnis spielt hier eine Rolle , weshalb es sich bei Krafts Theorie neben
einem semantischen Kognitivismus auch um einen erkenntnistheoretischen Kognitivis-
mus handelt.
Diesen Aspekt hervorhebend wurde Krafts Wert- bzw. Morallehre auch dem Kogniti-
vismus zugeordnet , z. B. von Hügli / Lübcke ( 1991 , 330 ) und Acham ( 1967 , 394 ). Letzterer
spricht sogar von einem naturalistischen Kognitivismus. „Kognitivismus“ wird von diesen
Autoren so verstanden , dass es bei moralischen Urteilen auch um Erkenntnis im üblichen
Sinne geht , dass diese auch eine kognitive Funktion haben bzw. dass sich sachliche Grün-
de für oder gegen das Urteil anführen lassen. Es geht hier also um einen erkenntnistheo-
retischen Kognitivismus.
Verhältnis zur Unterscheidung einer normativen und deskriptiven Komponente bei Richard
Mervyn Hare : Von mehreren wurde darauf hingewiesen , Kraft habe eine ähnliche Unter-
scheidung wie Hare getroffen. Gerhard Frey stellte in seinem Nachruf auf Kraft 1975 fest :
Wenn ich sage , daß es lobenswert ist jemanden , der in Not ist zu helfen , so meint man mit
„lobenswert“ den auszeichnenden Wertcharakter , während das Helfen in der Not die sach-
liche , neutrale Komponente bezeichnet. Eine derartige Unterscheidung ist meines Wissens
für Wertbegriffe und -sätze nicht aufgestellt worden , sie entspricht etwa der von Hare für
deontische Sätze gemachten von Neustik und Phrastik. ( Frey 1975 , 4 )
Wiederholt wird dieser Zusammenhang von Hegselmann ( 1979 , 91 f. ), Voll brecht ( 2004 ,
209 ) und Radler ( 2010 , 159 ).
In der Tat hat das , was Kraft sagt , viel Gemeinsamkeit mit dem , was Hare 1952 in The
Language of Morals ausführt. Die Gemeinsamkeit liegt jedoch nicht in der Unterschei-
dung von Phrastik und Neustik , welche Imperative betrifft. Denn diese Unterscheidung
würde für den Imperativ „Shut the door“ als Phrastik „Your shutting the door in the im-
mediate future“ ausweisen. ( Hare 1952 , 18 ) Das entspricht vielmehr der Unterscheidung
von Wert und Wertobjekt.491
Die Gemeinsamkeit mit dem , was Hare sagt , liegt vielmehr in Hares eigener Analyse
des alltagssprachlichen Wortes „gut“ ( und versteckter von „ought“ ) in derselben Schrift.
491 Dasselbe gilt für die Imperativlogik Jørgensens : “It is not possible to issue a command without com-
manding something to be done or to express a wish without expressing a wish for something. Any
imperative sentence may therefore be considered as containing two factors which I may call the im-
perative factor and the indicative factor.” ( Jørgensen 1937/38 [ 1998 , 273 ])
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441