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10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung
358 Die verschiedenen Definitionen des höchsten Gutes und des Sittlichen , wie sie die Ethi-
ken aufstellen , dienen als Wertungsaxiome. Durch die Gesetze der Logik kann so die All-
gemeingültigkeit von Werturteilen verbürgt werden , jedoch nur als eine hypothetische ,
bedingte Gültigkeit :
Man muß sie nur anerkennen , wenn man die zugrunde gelegten Wertungen anerkennt.
( Kraft 1937 , 177 )
Deduktive Argumente können nur zu einer bedingten Anerkennung „zwingen“. Die An-
erkennung der Wertaxiome kann damit nicht gefordert werden. Hierbei helfe die Logik
nicht weiter. Die Ansicht , Wertphänomenologie und Intuitionismus könnten diese Auf-
gabe leisten , hält Kraft ebenso für verfehlt :
Die Scheidung in wahre und vermeintliche Evidenzen einzuführen , ist eine mißliche Aus-
kunft. Denn man braucht dafür wieder ein Kriterium. ( Kraft 1937 , 179 )497
Kraft nennt diese Art der Begründung durchaus objektiv , aber bedingt objektiv. Wäre dies
die einzige Begründungsmöglichkeit , bliebe letztlich alles der individuellen Entscheidung
überlassen , ( bestimmte ) Wertaxiome anzuerkennen oder nicht. Selbst Positivistinnen und
Positivisten würde es aber , so Kraft die Prüfung weiterer Möglichkeiten motivierend , pa-
radox erscheinen , „daß es dem individuellen Gutdünken freistehen soll , ob man Raub-
mord und Betrug gut oder schlecht findet , ob man Heilmittel und Werkzeuge für wertlos
hält oder nicht“ ( Kraft 1937 , 179 ). Für Carnap , so muss hier angemerkt werden , wäre die-
ses Ergebnis jedoch keineswegs paradox.
2. Objektive Gültigkeit aufgrund der Unentbehrlichkeit für die individuelle Bedürfnisbe-
friedigung : Eine Begründung der objektiven Gültigkeit moralischer Urteile könnte wo-
möglich durch die Unentbehrlichkeit für die individuelle Bedürfnisbefriedigung erfolgen :
Die Anerkennung einer solchen Anweisung wird dann notwendig , wenn die angewiesene
Stellungnahme zum Leben unbedingt erforderlich ist. ( Kraft 1937 , 180 )498
497 In diesem Zusammenhang findet sich übrigens der einzige Verweis auf ein Werk von Schlick , jedoch
nicht auf die Fragen der Ethik , auf die Kraft in der ersten Auflage nirgends eingeht. Möglicherweise
unterließ Kraft dies aus Rücksicht auf die Herausgeber der Reihe , in der das Werk erscheinen soll-
te. Inhaltlich lehnte er Schlicks Hedonismus nämlich klar ab.
498 Trotz späterer Einschränkungen heißt es zunächst sehr pauschal : „Da sind einmal die elementaren ,
vitalen Bedürfnisse eines jeden Menschen nach Luft , Nahrung , Beschäftigung , Ausruhen , Wieder-
herstellung der Gesundheit , Schutz vor Feinden aller Art u. a. Was diese Bedürfnisse befriedigen hilft
( Wasser , Feuer , Heilmittel usw. ), muß jeder als positiv ausgezeichnet anerkennen ; und so auch als ne-
gativ ausgezeichnet alles , was ihre Befriedigung verhindert. Man kann all das in dem großen Grund-
trieb der Lebenserhaltung zusammenfassen. Was dafür erforderlich ist , dessen Wertcharakter ist ob-
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441