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10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode
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geschlossen. Unbegründet bleibe vor allem jede altruistische Forderung nach Hilfsbereit-
schaft und Fürsorge. Das sei es , was die sozial begründbare von der üblichen Moral tren-
ne , „die einen Niederschlag der christlichen Nächstenliebe bewahrt , nunmehr in der Form
der sozialen Solidarität“. ( Kraft 1940 , 213 )
Gerade das erscheint uns als das Spezifische der Moral und ihre höchste Stufe : Menschen-
liebe , Opferfähigkeit – Uneigennützigkeit. Die entscheidende Frage ist deshalb : Wie lassen
sich solche moralische Normen begründen ? Lassen sie sich überhaupt begründen ? ( Kraft
1940 , 213 f. )
Die naheliegenden sozialen teleologischen Begründungen sind nach Kraft also nicht für
die gesamte Moral erfolgreich. Gerade für altruistische Normen seien sie unzulänglich.
Gleichzeitig hat er hier eine Teildefinition des Moralischen festgelegt. Das Spezifische sei-
en Menschenliebe , Opferfähigkeit , Uneigen nützigkeit , Altruismus , wie er es später nennt.
Als Norm ausgedrückt : „Die Bedürfnisse aller sollen befriedigt werden.“ Ich nenne die-
se die altruistisch-egalitaristische Norm , zu der Kraft sich im Sinne eines wissenschaftli-
chen Humanismus bekennt.
Moralbegründung durch das Argument des Gattungsgesichtspunktes : Um die altruistisch-
egalitaristische Norm als allgemeinverbindlich begründen zu können , sucht Kraft nach
anderen Prämissen für seine Argumentation. Als zielführend hält er eine Begründung , in
der der Gattungsgesichtspunkt als Prämisse auftritt. Dieser soll einen überpersönlichen
Standpunkt einbringen , ohne den eine Begründung nicht erfolgreich wäre. Kraft sieht
dies so : Wenn man Individuen nur als Exemplare ein und derselben Gattung betrachtet ,
dann seien sie alle gleich ( vernachlässigt aber : in den gattungsbestimmenden Hinsichten ).
Es sei dieser Gesichtspunkt der Gleichheit , der zum überpersönlichen Standpunkt führe :
Dass man sich selbst als solches Element einer Gattung erkennt , als gleichartig mit den an-
deren und nicht mehr , das ergibt die grundsätzliche Wendung vom individuellen zum über-
persönlichen Standpunkt. ( Kraft 1940 , 215 )
Gattungsgleichartigkeit sei ein tatsächlicher Sachverhalt , welchen auch Egoisten und
Egoistinnen anerkennen müssten :
Der Standpunktswechsel wird also vollzogen durch eine Einsicht in einen Sachverhalt. ( Kraft
1940 , 215 )508
508 Haller bemerkt hierzu in seinem Nachruf : „Um diesen Standpunkt zu erreichen , muß man den rein
egoistischen verlassen und sich auf einen Standpunkt stellen , der der Einsicht fähig ist und an diese
appellieren kann.“ ( Haller 1976 , 620 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441