Seite - 368 - in Ethik und Moral im Wiener Kreis - Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
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10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung
368 Krafts Begründungsargument für die altruistisch-egalitaristische Norm von 1940 lässt sich
so rekonstruieren :
Für jeden Menschen gilt :
1. Sofern sich ein Mensch mit den anderen seiner Gattung als gleichartig er-
kennt , kann er keine Ausnahmestellung in Bezug auf die Berück sichtigung des
Gleichen in seinem und dem Handeln anderer beanspruchen.
2. Ein Mensch ist mit den anderen der Gattung Mensch gleichartig , insofern er
bestimmte Ziele verfolgt ( diese sind : Befriedigung vitaler Bedürfnisse , Sicher-
heit des Lebens und des Eigentums , Schutz vor Betrug und Ausbeutung , Er-
halten von Hilfe und Unterstützung , nach eigenem Willen leben etc. ).
3. Sofern er bestimmte Ziele verfolgt , kann er keine Ausnahmestellung in Bezug
auf die Berücksichtigung dieser Ziele in seinem und dem Handeln anderer be-
anspruchen.
Daher
4. Er muss das Verfolgen bestimmter Ziele aller in Bezug auf sein und das Han-
deln anderer gleich berücksichtigen.
Für die Ziele hieße das dann für alle konkret : Ich soll nicht töten ! Ich soll nicht
betrügen ! Etc. Damit rückt sich Kraft erstmals in die Nähe eines Naturrechts
bzw. einer natürlichen Moral :
In der Zusammenstellung dieser naturbedingten Grundnormen kann man den empirisch
haltbaren Kern dessen sehen , was man als Naturrecht und als natürliche Moral gesucht hat.
( Kraft 1940 , 223 )509
Spezielle Ziele , die nur bei der Gattung einer bestimmten Kultur vorhanden seien , wären
nur für spezielle historische Moralen begründend. ( Kraft 1940 , 224 )
Was ist von diesem Argument zu halten ? Wie haltbar sind die Prämissen ? Untersuchen wir
zunächst Prämisse 2 : Was Prämisse 2 betrifft , ist fraglich , ob bzw. welche Zielsetzungen
sich bei allen Menschen als gleich aufweisen lassen. Wie steht es um die Sicherheit des
Lebens und des Eigentums ? Will das wirklich jede( r )? Noch 1937 hat sich Kraft hier selbst
skeptisch gezeigt. Aber vielleicht bekämen wir so zumindest eine eingeschränkte Moral ,
die für alle gilt , die über solche gleichartige Bedürfnisse verfügen.
Wie steht es jedoch um Prämisse 1 „Sofern sich ein Mensch mit den anderen seiner
Gattung als gleichartig erkennt , kann er keine Ausnahmestellung in Bezug auf die Be-
rücksichtigung des Gleichen in seinem und dem Handeln anderer beanspruchen“ ? Was
heißt hier „kann“ bzw. „nicht können“ ? Kraft meint er läuternd :
509 Zum Naturrecht siehe aber 10. 3. 3.
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441