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10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode
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Die Moral wird nun zur „conditio sine qua non für die Kultur“ ( Kraft 1951 , 247 ) erklärt.
Doch lässt sich nicht auch ein Leben als Kulturmensch ablehnen ? Theoretisch ja , doch
praktisch nein , so Kraft :
Denn wer die Kultur negieren und aufgeben wollte , der müßte eben dadurch zum Tier wer-
den. Ein Mensch ganz ohne Kultur ist ein Selbstwiderspruch. ( Kraft 1951 , 247 f. )
Der Mensch sei seinem Wesen nach ein Kulturwesen. Deshalb müsse er alles als wertvoll
anerkennen , was für die Kultur unumgänglich notwendig sei , und als unwert , was diese
schädige oder behindere. Und entscheidend :
Damit ist nun eine sachliche Notwendigkeit für die Anerkennung überindividueller Wertungs-
grundsätze gegeben. Conditio sine qua non für die Kultur
– das ist das Prinzip , das eine allgemei-
ne , überindividuelle Geltung für Wertungsgrundsätze begründet. ( Kraft 1951 , 247 )
Es gibt nun Grundwertungen , die in jeder Kultur gelten müssen. ( Kraft 1951 , 249 )514 Kraft
hält zwar noch daran fest , die Anerkennung von Werturteilen beruhe auf der Beziehung
als notwendigem Mittel für allgemein menschliche Ziele und dadurch sei die Anerken-
nung durch den Willen zum kulturellen , individuellen und sozialen Leben ( und durch
die freiwillige Bindung an die Regeln theoretischer Argumentation ) bedingt. ( Kraft 1951 ,
257 )515 Nur hält Kraft 1951 eben den Willen zum kulturellen Leben für praktisch notwen-
dig und spricht sogar von „absoluten“ Werten :
Die Ziele , die durch die Bedingungen der Kultur überhaupt gesetzt werden , und damit die
sich daraus ergebenden Wertungsgrundsätze , kann nur ablehnen , wer darauf verzichtet , als
Kulturmensch zu leben , und das heißt , wer überhaupt nicht Mensch sein will. Insofern könn-
ten sie als absolute Werte angesehen werden. ( Kraft 1951 , 261 )516
Als Konsequenz für die legitimen Aufgabenbereiche einer wissenschaftlichen Wertlehre
ergibt sich daraus : Soweit es um die Bedingtheit von Wertungen durch die allgemeinen
514 Dies hat auch Auswirkungen auf Kunst und Wissenschaft. 1937 mussten die Banausen das Urteil der
Sachkundigen akzeptieren , weil sie ihm nichts entgegenzusetzen hätten. Nun gilt : Ohne Kunst und
Wissenschaft könnte das spezifisch Menschliche nicht entwickelt werden. Der Wert von Kunst und
Wissenschaft für die Kultur müsse nun von allen anerkannt werden , ungeachtet dessen , ob sie für
eine( n ) subjektiv von Wert seien. ( Kraft 1951 , 255 )
515 Kraft versteht sie deshalb auch als utilitaristische Begründung.
516 1950 hieß es noch bescheidener : „Man muß sich dazu auf den Standpunkt der Gesellschaft stellen
und den egoistischen verlassen. Aber wenn jemand dem sich entziehen will , dann muß er als Ein-
siedler leben oder als ein Parasit der Gesellschaft. Wer das nicht will , der muß ein sittliches Sollen
anerkennen.“ ( Kraft 1950a , 133 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441