Seite - 376 - in Ethik und Moral im Wiener Kreis - Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Bild der Seite - 376 -
Text der Seite - 376 -
10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung
376 Anerkennen nicht verboten ). ( 3 ) Manche mögen an der Erreichung ihrer Ziele durch die
vorgeschlagenen moralischen Normen sogar behindert werden. Für sie wäre eine Aner-
kennung dieser Normen sogar unzulässig.
Hinreichend rational begründet sind die Normen selbst unter Krafts Annahmen erst ,
wenn eine weitere Zielsetzung hinzugenommen wird , nämlich : die Erreichung der ge-
nannten Ziele für alle , also der Gleichbehandlungsgrundsatz. Dies ist der springende
Punkt , der zur Verfügung stellt , was zur Zusammenfügung individueller Perspektiven zu
einer gemeinsamen nötig ist. Aber warum sollte jeder dieses Ziel anerkennen ? Und hier
lässt Kraft die Katze , spät , aber doch noch aus dem Sack :
Die Begründung dafür , daß sich jeder dieses Ziel setzen soll , liegt wieder in einer Erkennt-
nis , darin , daß alle anderen von der gleichen Art wie er selbst sind und daß er deshalb keine
Sonderstellung für sich rechtfertigen , d. i. begründen , kann. [ … ] Und wenn alle eine Aus-
nahmsstellung wollen , ist es widerspruchsvoll. ( Kraft 1963 , 57 )
Setzte dies schon 1940 einen moralischen Gesichtspunkt voraus , hat sich seitdem dar-
an auch nichts geändert. Kraft kommt aus der Moral nicht heraus. Individuelle Gesichts-
punkte alleine sind für eine Moralbegründung nicht ausreichend.
Einige Formulierungen suggerieren dennoch , ohne eine gemeinsame Per spektive aus-
zukommen , etwa jene :
Die moralischen Normen sind somit nicht willkürliche Festsetzungen , sondern als Mittel zur
Erreichung der natürlichen Ziele sachlich bestimmt. ( Kraft 1963 , 57 )
Die Begehrensbefriedigung für alle ( auch nur in Bezug auf die genannten Ziele ) ist je-
doch kein natürliches Ziel. Und wer den Standpunkt der Gleichbehandlung nicht ein-
nimmt , kann auf dieses Ziel auch nicht durch Erkenntnis verpflichtet werden. Krafts
Versuch , den altruistischen Moraltheoretiker , wie er ihn in einem eingebauten Dialog vor-
stellt , noch einmal zu hintergehen , gelingt nicht. Wir haben bei Kraft höchstens eine alt-
ruistisch-egalitaristisch-rationale Moralbegründung. Krafts eigener ( Fehl- )Einschätzung
zufolge hätten wir es mit einer natürlichen Moral zu tun ( Kraft 1963 , 63 f. ), was ihm das
Urteil einbrachte , naturrechtlichen Positionen nahe zu stehen. ( V. a. Acham 1967 )518 Zwi-
518 Besonders Alfred Verdross ( 1890–1980 ) stützte sich auf Kraft. Verdross , Völkerrechtler und Rechts-
philosoph , war ursprünglich Schüler Hans Kelsens. Er wandte sich aber früh dem naturrechtlichen
Denken zu und begründete eine katholische rechtsphilosophische Schule und Völkerrechtslehre. Von
1958–1977 wirkte er als Richter beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Dass Kraft Mit-
glied des Wiener Kreises war , verwendet Verdross als Argument für seine Theorie : „Diese Einsich-
ten sind von um so größerer Bedeutung , als Kraft dem neopositivistischen Wiener Kreis angehört.
Seine Wertlehre beruht daher auf einer streng empirischen Grundlage , die jederzeit auf ihre Über-
einstimmung mit den Tatsachen nachgeprüft werden kann.“ ( Verdross 1971 , 97 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441