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10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode
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Begründung der Sozialmoral : Welche Konsequenzen hat dies für die Begründung einer So-
zialmoral ? Zur Begründung einer Sozialmoral reicht dies insofern nicht aus , als die Zie-
le noch beliebig sind. Solche Forderungen aufgrund teleologischer Beziehungen „scheiden
nicht zwischen gut und böse“, wie Kraft sich ausdrückt. ( Kraft 1968 , 110 ) Normen können als
moralische erst bei Voraussetzung moralischer Ziele begründet werden. ( Kraft 1968 , 111 ) Un-
ter Voraussetzung solcher Ziele werde die Ethik sodann zu einer technischen Wissenschaft :
Die teleologische Erkenntnisweise ist die der technischen Wissenschaften. Sie ermöglicht die
Anwendung der Erkenntnis auf praktische Zwecke , zur Erreichung von Zielen. Die Ethik
erhält auf diese Weise einen unerwarteten Charakter : sie wird zu einer technischen Wissen-
schaft. Das wird wohl für viele ein schockierendes Ergebnis sein. Aber es gibt keine ande-
re rationale Begründung für die Moral. Denn die Ethik kann nicht die Erkenntnis absolu-
ter Werte und kategorischer Imperative sein , weil es diese nicht gibt. ( Kraft 1968 , 110 f. )520
Über die Zweck-Mittel-Relation hinaus muss die Ethik in diesem Ansatz noch die mo-
ralischen Ziele klären , wenn schon nicht festlegen. Welchen Zielen dient die Moral ? Was
soll durch sie verwirklicht werden , was es ohne sie nicht gäbe ? Für Kraft ist es eine Ord-
nung , die es ermögliche , dass jeder Mensch seine Begehren befriedigen könne. Ohne
Moral herrsche „Kampf oder Zwangs ordnung“, in welcher nicht jeder seine Begehren
befriedigen könne. ( Kraft 1968 , 112 ) Der Zweck der Moral liegt ( unter idealen Bedingun-
gen ) also darin , zu ermöglichen , dass alle Menschen alle ihre Begehren befriedigen kön-
nen. Dieses Ziel ergebe sich aus dem unpersönlichen Standpunkt der Moral. Soweit zur
Charakterisierung der moralischen Perspektive. Sollten aber alle diesen Standpunkt tei-
len ? Dieser überpersönliche Gesichtspunkt werde durch die Erkenntnis der allgemeinen
Tatsache eingeführt , „daß ich mit anderen in wesentlichen Eigenschaften gleichartig bin ,
körperlich und seelisch“. ( Kraft 1968 , 112 ) Die Einnahme des allgemeinen Standpunktes
„folge“ aus der Erkenntnis der Artgleichheit , die „eine zoologische , also eine empirische
Tatsache“ sei. ( Kraft 1968 , 113 ) Der überpersönliche Gesichtspunkt fordere von jedem / je-
der , der / die die Befriedigung seiner / ihrer Begehren erstrebt , dass die Begehren aller be-
friedigt werden. Es sei , so schon 1940 und 1963 , logisch widersprüchlich , dass alle eine
Sonderstellung einnehmen. ( Kraft 1968 , 114 ) Aus dem Gesichtspunkt der Allgemeinheit
wäre es ein Vorrecht , wenn nur Einzelne alle ihre Begehren befriedigen könnten. So die
noch immer wenig überzeugende Begründung für den Gesichtspunkt der Allgemeinheit.
In diesem Punkt erscheint Kraft lernresistent. Im Unterschied zum Begründungsversuch
von 1963 bildet das Ziel in seiner Zweck-Mittel-Argumentation jedoch nun von vornhe-
rein ein gemeinsames Ziel , kein je individuelles.
520 Acham will das nur als eine Absage an die ontologische Existenz kategorischer Imperative verstan-
den wissen , sodass kein Widerspruch zur Bemerkung Krafts im selben Werk , moralische Normen
hätten die Geltung kategorischer Imperative , bestehe. ( Acham 1972 , 643 f. )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441