Seite - 382 - in Ethik und Moral im Wiener Kreis - Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
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10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung
382 letzungen erlauben , diese jedoch nicht selbst durchsetzen , weshalb diese Aufgabe dem
Recht zufalle. Das Recht stellt insofern eine Ergänzung der Moral dar , ohne diese ersetzen
zu können. Zumindest die oberste Instanz müsse die Normen freiwillig befolgen. ( Kraft
1968 , 130 f. ) Nun distanziert sich Kraft von naturrechtlichen Ansätzen. Die Moral trete an
die Stelle des Naturrechts.525 Sie sei das Kriterium für die Richtigkeit des Rechts , jedoch
nicht seiner Gültigkeit.526 Die Moral fordere , moralisch unrichtiges Recht nicht zu befol-
gen. ( Kraft 1968 , 132 f. ) Recht und Moral seien aufeinander angewiesen. Das Recht brau-
che zur Realisierung seiner Normen die Moral , die Moral zu ihrer Durchsetzung das Recht
( Kraft 1968 , 134 ), soweit es sich um Sozialmoral handelt. Doch auch die Individualmoral ,
die Kraft seit 1963 von der Sozialmoral unterscheidet , findet nun Krafts stärkeres Interesse.
Individualmoral : Darüber , wie das individuelle Leben innerhalb des Raumes , den die
soziale Moral gewährt , zu gestalten ist , sage die soziale Moral nichts. In der Individual-
ethik gehe es um den Sinn des Lebens und das Glück. Es sei individuell sehr verschieden ,
wodurch jemand glücklich werde. Kraft lehnt die Rat schläge der Stoa , der Jenseits-Reli-
gion und des Buddhismus ab. Allgemein gefordert könnten Lust und Glück als Ziele des
Lebens ohnehin nicht werden. Auch die persönliche Vervollkommnung könne nicht als
Ziel gefordert werden. ( Kraft 1968 , 136 ff. ) Anders stehe es um die Kultur , die hier wieder
ins Spiel kommt. Sie mache den Menschen zum Menschen und müsse für das individu-
elle Leben maßgebend sein :
Er [ der einzelne Mensch ; A. S. ] muß an der Erhaltung und Überlieferung des Kulturgu-
tes mithelfen und er soll , wenn er dazu fähig ist , es durch eigene Schöpfungen vermehren.
( Kraft 1968 , 139 )
Dies gelte auch , obwohl die Kultur die Menschen nicht unbedingt glücklicher gemacht
habe. Funktional gesehen lege die Kultur dem Menschen sogar eine Einschränkung in
der Befriedigung seiner Triebe auf. Sie mache ihn eher neurotisch als glücklich. ( Man
fühlt sich hier wohl nicht zu Unrecht an Freuds Das Unbehagen in der Kultur aus dem
Jahre 1930 erinnert. ) Doch die Kultur habe den Menschen von der Natur entfremdet und
er könne nicht einfach zurück. Die Kultur sei unumkehrbar zur Lebensform der Men-
schen geworden :
Darum muß die Kultur das oberste Ziel seines Lebens sein , ungeachtet dessen , ob er durch
sie glücklicher wird oder nicht. Er kann nur suchen , durch die Kultur das Glück herbeizu-
führen. ( Kraft 1968 , 141 )
525 Diese Distanzierung Krafts vom Naturrechtsgedanken akzeptiert Verdross nicht. Seiner Ansicht
nach ist es nötig , die soziale Moral durch das Naturrecht zu ergänzen , um von subjektiven Rechten
sprechen zu können , die dem positiven Recht vorgelagert sind. ( Verdross 1971 , 100 ff. )
526 „Darum unterliegt das Recht der Kritik durch die Moral.“ ( Kraft 1970 , 544 )
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441