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10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung
384 sammenhänge und rationale Diskussion möglich. Ein reiner Expressivismus ist somit aus-
geschlossen. Moralische Urteile sind nach Kraft notwendigerweise allgemeingültig , jedoch
nicht notwendigerweise absolut im Sinne von unbedingt begründet. Vor allem könne kei-
ne Begründung auf der Grundlage ontologisch selbstständiger Wert-Entitäten erfolgen.
Wie steht es um den umstrittensten Punkt , nämlich eine normative inhaltliche Ethik ?
Zählt für Kraft eine solche zu den legitimen Aufgaben einer Ethik ? Findet sich bei ihm
eine solche ? Doch , obwohl war nach Krafts Auffassung von 1937 Ethik keine absoluten
moralischen Werte und absolut gültige moralische Wert- und Normurteile erkennen kann ,
weil es solche nicht gebe , und auch keine neuen Werte aufstellen :
Werte zu weisen , ist Sache der geistigen Führer , sie zu relativ allgemeingültigen zu machen ,
Sache der sozialen Gemeinschaft , beides aber nicht Sache der Wissenschaft. ( Kraft 1937 , 223 )
Hier erweist sich Kraft wie Schlick und Feigl als Konformist :
Die moralischen Normen sind schon seit Langem entwickelt. Ihr Inhalt ist schon seit den
Anfängen höherer Kultur immer klarer und vollständiger ausgebildet worden , seit Hammu-
rabi , seit den zehn Geboten durch die jüdischen Propheten , durch die antike Ethik , durch das
Christentum , in der Aufklärung. Es kommt vielmehr auf ihre Begründung an. ( Kraft 1968 , 92 )
Kraft ist kein Revolutionär , er wollte auch die Moral nicht revolutionieren. Seiner eige-
nen Auffassung nach ging er im Wesentlichen mit den moralischen Ansichten seiner Zeit
konform , die er als aufgeklärt-humanistische verstand.529 Und diese Begründung , auf die
es ankommt , fällt für Kraft in den Bereich normativer Ethik und ist nicht nur eine legiti-
me Aufgabe für die Ethik , sondern ihre zentrale. 1937 meint Kraft hierzu noch zurückhal-
tend , dass es bei Untersuchungen hinsichtlich der Geltung von Wertungen , „d. h. in Hin-
sicht auf eine Nötigung zur Anerkennung der Anweisungen zu Stellungnahmen , welche
Werturteile eigentlich darstellen“ ( Kraft 1937 , 224 ), für die Wissenschaft nur um Wertab-
leitungen gehen könne. Als gültig sei nur erkennbar , was sich nach den Regeln der Logik
aus grundsätzlichen Wertungen ableiten lasse. Damit gewinne man analytische Erkennt-
nis. ( Kraft 1937 , 224 f. ) Außerdem könne die Ethik die herrschenden Werte in ein System
bringen , sie rationalisieren , was beispielsweise die Systeme der Ethik unternehmen. Um
ein System zu ermöglichen , müssen die Werte aber häufig umgebildet und korrigiert wer-
den. Damit sei diese Aufgabe keine rein analytische Arbeit mehr und damit auch keine
rein wissenschaftliche mehr. Es handelt sich vielmehr um eine Aufstellung neuer Wertun-
gen. Kant habe eben nicht nur herrschende sittliche Wertungen analysiert , sondern diese
529 In Krafts Ethik spiegelten sich die Ansichten eines liberalen Demokraten wider , der aufgrund eige-
ner Erfahrung totalitäre Systeme ablehnt. ( Radler 2006 , 220 ) Mit politischer Philosophie hat sich
Kraft jedoch nie beschäftigt.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441