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10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung
386 nen Wertabsolutismus oder Wertobjektivismus ablehnte oder nicht , müssen auf verschie-
dene Werke und Interpretationen dieser Begriffe relativiert werden.
Was Kraft auch in seinen späten Versuchen nicht leisten konnte , ist eine rein rationale
Begründung der mit Anspruch auf Allgemeingültigkeit auftretenden moralischen Nor-
men. Wenn es stimmt , was Kraft , wie schon oben angeführt , meint :
Nur eine rationale Begründung , d. i. eine Begründung auf Erkenntnis , kann der Moral eine
sichere Grundlage geben. Denn Rationalität heißt , sein Verhalten durch Erkenntnis leiten
lassen. Nur die Erkenntnis kann eine objektive Grundlage geben , die nicht abgewiesen wer-
den kann , die von allen anderen anerkannt werden muß. ( Kraft 1963 , 6 )
Dann hat Kraft keine objektive Grundlage für die Allgemeingültigkeit ( bestimmter ) mo-
ralischer Normen angeben können und ist mit seinem Vorhaben gescheitert. Kellerwes-
sels abschließendem Urteil kann insofern nur zugestimmt werden :
Die Kluft zwischen den deskriptiv-empirisch erfaßbaren ( vermeintlichen ) Zielen und der
Begründung ihrer normativen Verbindlichkeit ist im Rahmen von Krafts Moralphilosophie
ebenso wenig zu schließen wie die argumentative Lücke zwischen der empirisch feststellba-
ren Artgleichheit der Menschen und der von Kraft behaupteten , aber nicht nachgewiesenen ,
normativen Kraft dieser Gleichheit. ( Kellerwessel 2003 , 261 )
Was Kraft höchstens zeigen konnte , ist , dass bei Akzeptanz bestimmter Grundnormen
( altruistisch-egalitaristische Norm ), bestimmter anthropologischer Gegebenheiten ( Stre-
bungen ) und bestimmter Zweck-Mittel-Beziehungen bestimmte moralische Normen all-
gemein anerkannt werden müssen. Das ist ein viel bescheideneres Ergebnis als das , was
gemeinhin mit einer Moralbegründung zu erzielen versucht wird , aber möglicherweise ist
ein solches Ergebnis gerade wegen seiner Bescheidenheit der Moral als Praxisform ad-
äquater. Es muss kein Mangel solch bescheidener Ansätze sein , keine Letztbegründung
der Moral leisten zu können , sondern der Mangel könnte gerade dort gesehen werden ,
wo eine solche überhaupt verlangt wird. Wenn die moralischen Ansichten über das Zu-
sammenleben weder der persönlichen Willkür des Einzelnen noch einem Gott überlassen
sein sollen , bleibt noch immer die Möglichkeit , sie der Übereinkunft einer Gemeinschaft
anzuvertrauen. Diese Perspektive eröffnet Krafts Analyse moralischer Werturteile. Kraft
nützte sie im Verlangen nach einem unverrückbaren Fundament jedoch nicht.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441