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11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung
396 I don’t think that we have to go to the New Testament to find this. One can find it in the Old
Testament , especially among the Jewish prophets : the principles of kindness , fairness , equal-
ity. And I think among all people , but in very diverse forms , you have ideals closely approx-
imating these. Now these moral commitments , or principles , [ … ], may well have come out
of the natural development of human beings in the social context. [ … ] Psychology points in
the direction of human needs and interests that must be satisfied. And in the social context ,
certain traffic rules simply have to be obeyed if we are to survive as a society. Thus we have
ideals of justice and equality. ( Feigl 1969a [ 1981 , 419 f. ])
Relativ ist die Moral bei Feigl nur in ihrer Abhängigkeit von der menschlichen Natur.
Feigl hält die genannten ethischen Grundprinzipien , indem sie Bedürfnisse und Inte-
ressen aller Menschen befriedigen , sowohl pragmatisch gerechtfertigt als auch in ihrer
Anwendung für universell. Auf der Basis von Gerechtigkeit , Gleichheit , Fairness und
Freundlichkeit seien deshalb allgemein gültige Normensysteme aufzubauen , die in den
Grundprinzipien übereinstimmten , pragmatisch gerechtfertigt seien und nur in spezifi-
schen Aspekten variierten. ( Feigl 1950 [ 1981 , 264 ])
Feigl nennt eine solche Begründung naturalistisch , insofern sie nicht auf übernatürli-
che Instanzen zurückgreift. Der Humanismus ist ein Naturalismus , „der die diesseitige Si-
tuation des Menschen mit diesseitigen Mitteln aufgrund von aufs Diesseits bezogenen
Erwägungen zu verbessern sucht.“ ( Kellerwessel 2010 , 179 )
Die Gleichförmigkeit der menschlichen Zwecke wird bei Feigl über eine normierte
menschliche Natur hergestellt. Diese Natur könne empirisch erforscht werden und werde
von abweichenden Individuen nicht gefährdet. Menschen , die von der „menschlichen Na-
tur“ abwichen , wiesen eine psychopathische Persönlichkeit auf und ihnen gegenüber lie-
ße sich die Moral auch nicht rechtfertigen. ( Feigl 1969a [ 1981 , 420 ]) Wie mit diesen um-
zugehen sei , erfahren wir nicht.
Selbst wer die Argumentstruktur pragmatischer Begründung ( vindication ) als zuläs-
sig erachtet , mag gegen Feigls Moralbegründung einwenden , ( 1 ) es gebe keine einheitli-
che menschliche Natur , auf deren Basis gleiche Zwecke verfolgt werden , oder ( 2 ) die von
Feigl angeführten Grundprinzipien würden der Erreichung dieser Zwecke nicht dienen.
Auf den Einwand , in verschiedenen Kulturen würden verschiedene Zwecke verfolgt ,
antwortete Feigl 1952 , die Zwecke könnten angeglichen werden. ( Feigl 1952 [ 1981 , 388–
391 ]) In „Ethics , Religion and Scientific Humanism“ geht er 1969 davon aus , die ge-
meinsame Natur und mit dieser verbundene gleiche Zwecke seien bereits vorhanden , es
müsse lediglich tiefer danach gegraben werden. ( Feigl 1969a [ 1981 , 418 ]) In eingehen-
den Untersuchungen könnte sich diese Hypothese bewähren , doch Feigl kann keiner-
lei Belege anführen. Tieferes Graben könnte auch tiefe Differenzen zutage fördern. Hier
liegt der stärkste Einwand gegen seinen Begründungsversuch. Ist dieser in seiner Struk-
tur wenig anspruchsvoll , so wird alles von einer einheitlichen menschlichen Natur ab-
hängig gemacht.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441