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11.2 Feigls Auffassung von Moral und Ethik
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Mit dem Einwand , eine sich verändernde menschliche Natur würde in Feigls Konzep-
tion zu sich wandelnden Grundprinzipien führen und die Moral wäre nicht mehr zeit-
invariant , hätte Feigl wohl weniger Schwierigkeiten. Die Moral ist für die Menschen
da , verändern sich diese , muss sich gegebenenfalls auch die Moral ändern. Insbesonde-
re könnte es nötig sein , eine tatsächlich vertretene Moral , die auf irrigen Vorstellungen
der menschlichen Natur und entsprechender Zwecke basiert , abzuändern. Die wissen-
schaftliche Weltanschauung würde in dieser Hinsicht zu einer Verbesserung der Moral
führen. ( Feigl 1965 , 117 ) Dass nicht in allen Kulturen Gerechtigkeit , Gleichheit , Fairness
und Freundlichkeit als moralische Grundprinzipien galten und gelten ( z. B. die Haltung
von Sklavinnen und Sklaven oder die Diskriminierung aufgrund geschlechtlicher , reli-
giöser oder ethnischer Zugehörigkeit als moralisch wünschenswert erachtet werden ), ist
für Feigls Begründungskonzeption aus diesem Grunde unerheblich ( pace Kellerwessel ).
Ebenso wenig würde Feigl der Einwand bekümmern , die Moral wäre seiner Konzepti-
on nach in ihrer Verbindlichkeit an äußere , variable Kontexte gebunden. Zumindest hätte
Feigl keine Schwierigkeiten damit , sofern hier nur spezifische Varianten der Grundprin-
zipien betroffen wären. Die Möglichkeit dieser Varianten räumt er , wie oben angeführt ,
ausdrücklich ein.
Größere Schwierigkeiten bereitet das Problem , dass Feigl selbst bei angenommener
einheitlicher menschlicher Natur von den allgemein menschlichen Zwecken bei allem
Guten , das er als Teil der menschlichen Natur voraussetzt , eine Auswahl zu treffen hat ,
um nicht noch weitere Grundprinzipien zu erhalten , die denjenigen Zielen , welche jenen
die Moral begründenden entgegenstehen , dienlich wären. Wie sollte jedoch ausschließ-
lich auf Grundlage der menschlichen Natur eine Auswahl getroffen werden können ? ( Vgl.
auch Kellerwessel 2010 , 189 f. ) Feigl scheint von zusätzlichen Prämissen auszugehen , die
er nicht ausweist.
Liegt ein Sein-Sollen-Fehlschluss vor , wie ihn Kellerwessel diagnostiziert ? Feigl selbst
lehnt es ab , moralische Werturteile alleine aus Fakten über die menschliche Natur im so-
zialen Kontext abzuleiten. Es brauche immer ein Commitment an grundlegende Zie-
le oder Werte , um moralische Entscheidungen oder Handlungen zu rechtfertigen. ( Feigl
1974 [ 1981 , 18 ]) Feigl begeht keinen Sein-Sollen-Fehlschluss , denn er argumentiert letzt-
lich mit dem aufgeklärten Selbstinteresse und bietet ein prudentielles Argument. Die Fra-
ge „Warum sollte ich die moralischen Normen als handlungsleitend akzeptieren ?“ erfährt
mit „Weil sie deinen Selbstinteressen dienen“ eine befriedigende Antwort. Jedes Indivi-
duum hätte nun guten prudentiellen Grund , die Moral zu akzeptieren. Die Moral wird
jedoch nicht aus bestehenden Wünschen deduziert , sondern findet mit dieser Antwort
pragmatische Akzeptanz. Mehr ist für die Praxis nicht vonnöten.
[ … ] validation must terminate with premises ( basic assumptions , presuppositions ) which in
the given context are not susceptible to further validation. But these “ultimate” presupposi-
tions of validation are neither arbitrary conventions , nor unquestionable a priori truths. They
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441