Seite - 408 - in Ethik und Moral im Wiener Kreis - Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
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12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen
408 tung von „moralisch gut“ eine formale von einer materialen ( inhaltlichen ) Komponente.
Die formale Komponente verweist darauf , dass etwas getan werden soll. In der inhaltli-
chen Komponente geht es darum , ob etwas lustbringend ( für die Gesellschaft , für Ein-
zelne ) ist. Aufgrund der inhaltlichen Komponente liegt bei Schlick sowohl ein semanti-
scher als auch ein erkenntnistheoretischer Kognitivismus vor. Die inhaltliche Komponente
des Wertprädikats ist für Schlick hinreichend , um einen Satz zum Träger der Wahrheits-
werte wahr / falsch im üblichen Sinne zu machen. Nach Schlick sind moralische Sätze in
einer intersubjektiv verbindlichen Weise als wahr / falsch auszuweisen. In Wertsätzen ge-
schieht die Verifikation durch Lusterlebnisse , wenngleich in Wert sätzen der gesellschaft-
lichen Moral auf komplexe Weise , die Schlick nicht näher erläutert. Etwas ist wertvoll ,
insofern es mit Lust wahr genommen oder vorgestellt wird. ( Schlick 1930 , 77 ) In Schlicks
individueller Moral ist „x ist moralisch gut“ äquivalent mit „x ist für die Glücksfähigkeit
eines Individuums förderlich“. Aufgrund der zusätzlichen formalen Komponente haben
wir es jedoch nicht mit einem naturalistischen Fehlschluss zu tun.
Kraft lehnt Schlicks Hedonismus ab , folgt ihm jedoch in der Ansicht , dass die Bedeu-
tung von „moralisch gut“ zwei Komponenten aufweise. Moralische Wertbegriffe seien im-
mer spezialisierte Wertbegriffe , die neben dem Wert charakter eine sachliche Komponente
aufwiesen. Für Kraft ist der Standpunkt der Moral , wie oben dargelegt , immer ein über-
individueller , gemeinsamer. In überindividuellen Werturteilen fordert ein Individuum die
Anerkennung eines Urteils nicht aus individueller Perspektive , sondern fordert im Namen
einer gemeinsamen Perspektive die Urteilsanerkennung von allen. Auf der Basis eines ge-
meinsamen Begriffs des moralisch Guten , der eben immer eine Sachkomponente enthält ,
sind Verständigung , logische Zusammenhänge und rationale Diskussion möglich. Eine
Begründung auf der Grundlage von ontologisch selbstständigen Wertentitäten könne je-
doch nicht gegeben werden. Feigl folgt Kraft in diesen Punkten.
Zerstören die von Mitgliedern des Wiener Kreises vertretenen Auffassungen die Mo-
ral ? Selbst dort , wo es um einen individualistischen reinen Expressivismus oder Präskrip-
tivismus geht , hängt die Antwort auf diese Frage davon ab , ob man von Moral mehr er-
wartet , als persönliche Gefühle , Wünsche oder Haltungen zum Ausdruck zu bringen.
Persönliche Gefühle , Wünsche und Haltungen setzt auch der Emotivismus voraus. Nihi-
lismus oder Amoralismus folgt daraus keineswegs. Unabhängig davon , dass die Logischen
Empiristinnen und Empiristen keinen Nihilismus oder Amoralismus vertraten , sind die-
se Haltungen keine notwendige Konsequenzen eines reinen individualistischen Expres-
sivismus , Präskriptivismus oder anderer nonkognitivistischer Positionen. Diesbezüglich
hat Carnap sicherlich Recht , wenn er eine solche Behauptung am Schluss seiner Auto-
biografie zurückweist :
Dass die Anerkennung der nicht-kognitiven Natur der Werturteile das Desinteresse an mo-
ralischen oder politischen Aufgaben fördere oder dafür bezeichnend sei , halte ich durch ei-
gene Erfahrung für klar widerlegt. ( Carnap 1963a [ 1993 , 129 ])
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441